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RUTH KLUG

Kinderzeit und Krieg

 

Westpreußen, mein lieb` Heimatland

wie bist Du wunderschön!

Mein ganzes Herz Dir zugewandt

soll preisend Dich erhöh`n.

Oh Weichselgau, oh grünende Au!

Wo Korn und Obst der Flur entsprießt,

wo Milch und Honig fließt!

wo's Dörfchen dort zu Ende geht,

wo's Mühlrad am Bach sich dreht,

da steht im duft´gen Blütenstrauß

ein Hüttlein - s´ ist mein Vaterhaus!

Da schlagen mir zwei Herzen drin,

voll Liebe und voll treuem Sinn.

Der Vater und die Mutter mein,

das sind die Herzen gut und rein.

Darin noch meine Wiege steht,

darin lernt ich mein erst´ Gebet,

darin fand Spiel und Lust stets Raum,

darin tauscht ich für das schönste Schloß

wär's felsenfest und riesengroß

mein liebes Hüttlein doch nicht aus,

denn es gibt ja nur ein Vaterhaus!

 

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Detailkarte
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L i e b s e e

An einem heißen Augustsonntag in dem folgenschweren Jahr 1933, mittags 12 Uhr wurde ich geboren. Meine Mutter konnte sich noch genau entsinnen, daß es ein wunderschöner Tag war und der Himmel strahlend blau. Eigentlich will ich das gar nicht glauben; ich denke, der Himmel muß ja wohl pechschwarz gewesen sein bei meinem notorischen Pech. Nun, die Widerwärtigkeiten kamen erst im Laufe der Jahre. Meine Kindheit war jedenfalls traumhaft schön. Ich wuchs in einem der schönen Bauernhöfe auf, die weit genug voneinander entfernt waren, um sich nicht zu belästigen, doch nahe genug, um nette Freundschaften zu halten.

Rings um den Hof waren Obst-, Gemüse- und Blumengärten, sowie Kornfelder, Raps -, Rotklee- und Lupinenfelder. Hof und Garten waren durchweg mit Hecken bepflanzt. Tannen, dahinter Himbeeren, Haselnuß-, Walnuß -, Holunder -, Flieder -, Schneeball - hecken und Goldregen, Weiden, Kastanien, Akazie, Ahorn und vor allem - natürlich Obstbäume die Menge, Spalierobst, Beerensträucher, ach, wer könnte all die Herrlichkeiten meines lieben freundlichen Vaterhauses restlos aufzählen?

Etwa 12 m vor den Tannenhecken des Obstgartens standen dicht nebeneinander Papas Bienenstöcke. Den Bäumen, die er fast alle gepflanzt und zum Teil selbst veredelt hatten, und den Bienen galt seine Liebe, denn er war von Herzen ein Imker.

Der eigentliche Bauer war Mama, und sie war ein tüchtiger Bauer; resolut und ungemein fleißig. Sie stand vor Tage auf und ging spät in der Nacht schlafen. Nur noch im Winter legte sie sich - nachdem das Vieh besorgt war - gerne noch ein Stündchen hin. Dann las sie. Sie las gerne, hatte dazu aber kaum Zeit.

Als ich noch ein Vorschulkind war, träumte ich am liebsten mit mir allein oder mit meinen Puppenkindern im Kornfeld, in hohen Gras oder einer Baumkrone. Meine Angst vor der "Kornmuhme" war zwar ganz schön groß, trotzdem zog es mich unwiderstehlich in dieses grüne, gelbe, träumende, rauschende, herrliche Kornfeld- Paradies. Manchmal rauschte es so schön und so gruselig - und mir blieb fast das Herz stehen; denn es war ja die "Kornmuhme"! Obwohl ich vor Angst vor ihr, aber wohl hauptsächlich aus Mitleid mit den Hälmchen, kaum etwas oder doch nur sehr, sehr wenig zertrat.

Von Eltern und Geschwistern wurde ich sehr verzärtelt. Ich war sehr ruhig, scheu und zart und zerbrechlich, ganz im Gegensatz zu meinen großen  und starken Eltern und Geschwistern.

Meine Mutter - ach, mein liebes, liebes "Marthakind" war eine schöne stolze und und selbstbewußte Frau und Mutter. An manchen heißen, stillen Sonntagnachmittagen saß sie wohl ein Stündchen bis zur Kaffeezeit unter der großen Kastanie oder den offenen Scheunentor mit einem Buch oder auch einer Näharbeit neben meiner Schaukel. Alles war so still! Nur die Schaukel quietschte ganz leise. Ich denke so oft an diese Stunden zurück. Und es ist alles so unwiederbringlich vorbei.

Meine jüngere Schwester Trautchen war ein kleiner "Springinsfeld", quicklebendig, an allem mächtig interessiert, so recht beinahe in allem das Gegenteil von mir - und ich hatte sie arg lieb! Wir beide waren Nachzügler. Die anderen waren schon groß, als wir kamen. Auf die Schule freute ich mich sehr, trotz meiner Verspieltheit, und mein liebes, gutes "Großchen" lehrte mich - was sie wichtig fand - im voraus, damit der Lehrer gleich einen guten Eindruck bekäme, meinte sie. So kannte ich vor Beginn der Beginn der Schule schon die Uhrzeit, einige Buchstaben und konnte bis 100 zählen.

Vor allem aber kannte ich neben vielen schönen Volks- und Kinderliedern, viele Gebete und noch mehr Kirchenlieder; denn sie war eine wirklich fromme, liebe und gütige alte Dame. Dazu war sie lebenstüchtig, wie mein Mütterchen, was wohl auf mich ganz schön Einfluß genommen hat; wenn es nicht gar von ihr vererbt war.

Die Schule war denn auch so schön, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war ganz mit großen alten Linden, Kastanien und Sträuchern bestanden. Man konnte dort ebenfalls herrlich träumen. Und so folgte ich dem Lehrstoff nur, soweit er mir und meiner völlig in Träumen versponnenen Seele interessant erschien, und das war erst einmal Deutsch, Heimatkunde und Musik. Mehr aber verfolgte ich die aufbrechenden Knospen, die Schwalben, Meisen, den Starmatz, Hummeln und Schmetterlinge dicht neben mir am Fenster.

Dies hatte mein gutes Mütterchen jedenfalls nicht vorausgesehen, als sie die anderen   Mädchen überzeugte, mir doch diesen schönen Fensterplatz zu geben, weil unter den Fenstern ja die Heizung war und - ich ja so zart wäre und so leicht fröre .... Sie setzte noch ein besonders starkes, sehr vernünftiges und selbständiges Mädchen neben mich, in deren Obhut sie mich auch für die Pausen übergab.

Es störte sie gar nicht, daß dieses ein Kind reicher Gutsbesitzer war. Mein Vater hatte auch schon meine liebe Lehrerin, Fräulein Körber, ebenfalls Bienenzüchter wie er, gebeten, gut auf mich aufzupassen. So hatte ich zwei Aufpasserinnen und bald fühlten sich noch einige Mädchen dazu bewogen, und ich hatte Mühe, meine Schnitten ungesehen zu verschenken oder auch wegzuwerfen. Essen mochte ich sie nicht und meine Mutter ärgern, wenn ich sie zurückbrachte, erst recht nicht.

Zum Glück hatte ich eine leichte Auffassungsgabe und trotz meiner ewigen Träumerei gute Zensuren. Da dies so war und ich meine Schule sehr ernst und wichtig nahm, hinderte mich auch niemand, die ganze Freizeit verspielt und verträumt zu verbringen. Viel mag auch die herrliche Gegend, mein schönes liebes Vaterhaus dazu beigetragen haben. Und da meine Eltern laufend - meist grundlos - mein Leben bangten, ließen sie mich gewahren, ja verwöhnten und verzärtelten mich maßlos, was mir im späteren Leben manchmal ganz schön zu schaffen machte.

Da war Trautchen aus ganz anderem Holz. Sie war rund und gesund, härter im Nehmen, sehr umweltkritisch. Sie wurde von den Eltern und Geschwistern auch derber angefaßt, was ich für mein liebes Trautchen stets als großes Unrecht empfand, aber nie die Kraft aufgebracht hätte, dagegen aufzubegehren. Sie hat sich wohl durch mich immer etwas zurückgesetzt gefühlt. Aber es ist ihr im Leben dann besser zustatten gekommen, als mir mein Verzärteltwerden.

Wir beide verstanden uns darüber hinaus aber sehr gut, auf jeden Fall weitaus besser, als mit der "besten Freundin", solange wir Kinder waren. Was einer dachte oder wollte, dachte und wollte auch der andere. Wir waren uns in unseren Spielen immer einig. Meist waren wir jeder eine Mutti mit ein paar Puppenkindern, wir hießen Frau So oder Frau So, je nachdem welche junge Frau aus der Bekanntschaft uns gerade imponierte. Dazu hatten wir noch einige gedachte Personen, die wir mittlerweile schon gut kannten.

Seltener spielten wir mit anderen Kindern Schule, wobei ich dann die Lehrerin war, damals wollte ich jedenfalls Lehrerin werden, und zwar immer genauso lieb, wie meine guten Lehrerinnen. Später wollte ich dann Tänzerin werden. Ich tanzte gerne Volkstänze und noch lieber eigene Phantasien. Es war himmlisch, die eigenen Körperbewegungen nach schöner Musik; manchmal hatte ich die Musik bloß um Ohr.

Den größten Teil meiner Freizeit nach der Schule und den Hausaufgaben verbrachte ich als Schulkind jedoch mit Büchern. Nicht nur mit meinen, sondern darüber hinaus mit Büchern meiner Eltern. Seit ich ein bißchen lesen konnte, stopfte ich mir ziemlich alles ins Köpfchen. Die verschnörkelten und die deutschen Buchstaben machten mir am Anfang einige Schwierigkeiten, schreckten mich aber nicht ab, zu lesen, zu lesen, zu lesen: Märchen, Novellen, Gedichte, Geschichten, alle Klassiker, jedoch nur das Zarte, Verträumte oder Traurig - Schöne. Es war bei dem Wust auch viel Kitsch dabei, vereinzelt wohl auch ein Roman.
Meine Mutter fand mich einmal völlig verweint über einem "Ganghofer". Sie nahm mir das Buch bloß weg, wischte mir das Gesicht ab, strich mir übers Haar und sagte, daß mußt Du noch nicht lesen.

Meine Puppen und meine Lieblingsplätze im Korn, Rotklee oder einer für mich gerade noch erkletterbaren Baumkrone hatte ich deshalb nicht vergessen. Nur, wo ich früher spielte und träumte, las ich jetzt - und meine Puppen träumten neben mir. Manchmal träumte ich aber auch noch.

Mein kleines Trautchen war in solchen Zeiten bei irgendwelchen Lehmanns oder Schulzens, behütete wohl mal ein Baby, wo die Bauern auf den Feldern waren, inspizierte auch Hof und Stall und kritisierte dann auch irgendwelche entdeckten Mißstände gegenüber meinen Eltern. Es wurde ihr solches laufend untersagt, es war ihr aber nicht sobald abzugewöhnen. Sie kritisierte auch unser gutes Großchen oder Herrn Kühn, ein alter Mann, der bei uns Hof und Ställe sauber hielt, wenn diese ihrer Meinung nach etwas falsch machten. Es war so ein harter Gerechtigkeitssinn. Sie machte es sich keinesfalls leicht.
Ich war an all solchen Dingen völlig desinteressiert. Ich sah Schmutz und Unordnung bei anderen Leuten einfach nicht, solange man von mir nicht verlangte, mich beispielsweise darauf zusetzen.

Nicht weit von unserem Bauernhof stand ein schönes Schloß in einem schönen Park. Den größten Teil des Schlosses vermietete das Fräulein Münster an gutsituierte Leute, um es nicht noch verkaufen zu müssen. So wohnten dort auch Herr und Frau Deutschendorff mit ihrem kleinen Uli. Diese Dame hatte nun nach kritischem Suchen mich "erkoren" und Mamachen gebeten zu erlauben, daß ich Ulis Spielgefährtin sein soll. Das wäre ja bloß halb so schlimm gewesen, wenn ich mein kleines Trautchen hätte mitnehmen dürfen. Aber nein, nur ich sollte mit diesem Uli spielen, wogegen ich Mama gegenüber laufend Protest einlegte. Trautchen begleitete mich also immer bis zu diesen Leuten und wollte draußen auf mich warten, wurde aber meist weggeschickt. Solches empörte mich sehr und schließlich hatte ich mich durchgesetzt, daß ich nicht mehr dort hin gehen mußte.

Überhaupt spielten wir nicht so sehr gerne mit anderen Kindern. Trotz unserer großen Gegensätzlichkeit mochten wir am liebsten zu zweit spielen. Wir verstanden uns ohne viele Worte und hatten auch immer die gleichen Gedanken. Auch in den Schulpausen hielt ich mich gerne abseits; aber hier gelang es mir nie. Die lieben Mädchen fanden mich schnell, sie umsorgten mich und ich mußte das Dornröschen oder das Häschen in der Grube sein. Immer und überall erging es mir so.

Ich mußte aber dazu sagen, es machte mir auch großes Vergnügen, mir diesen guten Mädchen zu spielen. Ich liebte schon die Gesellschaft freundlicher Menschen, hatte aber immer einen großen Hang zur Einsamkeit. Wohl, weil ich immer sehr artig war, mußte ich, wenn die Lehrerin einmal die Klasse verlassen mußte oder gar eine Besorgung zu machen hatte, mich nach vorne setzen, die anderen Mädchen singen oder lesen lassen; vor allem aber mußte ich jede auf schreiben, die schwatzte oder sonst ungezogen war. Das letztere machte mir gar keinen Spaß, und so schrieb ich kaum jemanden auf. Da war jedoch ein öfter sitzengebliebenes Mädchen, Anneliese, laufend arg ungezogen, ich mochte sie auch nicht, weil sie so schmutzig war und Ermahnungen halfen nicht, von der Lehrerin bekam sie auch manchmal mit dem Rohrstock, und einmal trieb sie es zu weit und ich schrieb sie auf. Sie mußte nachsitzen und bekam zu Hause Prügel, wie sie später erzählte.

Am nächsten Tag spielten wir in der Pause Seilhüpfen. Plötzlich lief mir viel Blut vom Kopf und es brannte ein bißchen. Die Anneliese, die nicht mitspielen durfte, hatte mir einen Stein an den Kopf geworfen. Die Lehrerin verarztete mich sorgsam, haute Anneliese den Hintern aus und ich wurde sogleich nach Hause gebracht. Meine Mutter schrie auf, als sie meinen bereits wieder durchbluteten Verband sah. Es war gerade eingespannt und unser Arzt wurde geholt. Ich war haargenau neben der Schläfe getroffen worden. Die Anneliese hat diese Tat sehr nachhaltig bedauert, d. h. das Schuljahr über. Dann kamen wir in verschiedene Klassen; dann sie war wieder sitzengeblieben. Mir tat es auch ewig bitter leid, die Anneliese aufgeschrieben zu haben, dieses arme Menschlein, daß ohnehin vom Schicksal benachteiligt worden ist.

In der 4. Klasse gab es ein großes Abschied nehmen. Einige Mädchen gingen aufs Gymnasium, ich und einige Mädchen zur Hauptschule und ein Teil kam in die 5. Klasse. Es war 1944 und ostpreußische Flüchtlinge zogen vorbei mit Pferdetrecks. In unserem stillen Schloß wurden zwei Flüchtlingsfamilien einquartiert. Zu ihnen gehörten sehr nette freundliche Mädchen, und Trautchen und ich, wir befreundeten uns sogleich mit ihnen.

Seit Trautchen Schulkind war, war sie anders geworden, ernster, nachdenklicher und liebenswerter. Mein Bruder Walter, mein Beschützer - na, so eigentlich wollte mich beinahe jedermann beschützen, meine Art forderte dies wohl heraus - wurde "freiwillig" zu den Fallschirmjägern eingezogen und kam direkt nach Paris zur Ausbildung. Er sprach etwas französisch und gewann dort bald Freunde. Nach dem Krieg wollte er jedenfalls mit mir ganz nach Frankreich gehen. Er war 18 Jahre und hat den Krieg, trotz aller Versuche über das Rote Kreuz,vermutlich nicht überlebt.

Wir hörten seit Januar 1945 nie wieder etwas über Walter uns sein vielleicht furchtbares Ende. Meine arme Mutter hoffte noch 34 Jahr danach, etwas von ihm zu hören oder ihn zu sehen, bis sie selbst die Augen für immer schloß.

Im Herbst 1944 sprachen die Leute, auch meine Eltern - leise! - über eine eventuell bevorstehende Flucht. Natürlich waren solche Gespräche damals gefährlich. Es gab Fliegeralarm, Partisanen in den riesigen Wäldern und noch schlimmere Schauergeschichten über diese. Flüchtlinge zogen ununterbrochen vorüber, traurig, müde, und es zogen auch bereits Teile der Wehrmacht vorbei, rückwärts. Man glaubte manchmal schon das Donnern der Front zu hören - und man glaubte es leider nicht nur.

Kriegsgefangene wurden am Bahnhof umgeladen, auch Zivilisten aus Rußland. Den einen durfte man zu essen und zu trinken geben, den anderen nicht; es gab da irgendwelche strenge Unterschiede.

Papa, schwerbeschädigt, mußte im Lazarett im Doktorwald als Zivilangestellter Dienst tun. Durch ihn wurden wir mit schrecklichen Verwundeten und deren Familien konfrontiert - mit all dem daran hängenden privaten Leid.

Trotzdem blieben wir - vorerst - relativ unberührt, von dem entsetzlichen Krieg. Zwar war die schreckliche Nachricht gekommen, daß Gustel gefallen war, das war ein unsagbares Leid für unser liebes Mütterchen, uns kleine Mädchen berührte das aber nicht so sehr.

Unsere große Schwester Christel war in Marienburg ausgebombt worden und mit ihren zwei niedlichen Mädchen zurück auf den Hof gekommen. Ihre Ehe ging auch kaputt. Dadurch hatte ich schon seit 1943 das herrliche Vergnügen, die kleine, sehr ernsthafte Nebenmutti dieser kleinen Mädchen zu sein. Wobei mir die dreijährige Hannelore, Mausi genannt, die Liebere war.
Meine ach so geliebten Puppen saßen vergessen im Spielzimmer. Die schönen großen in Mamachens guter Stube aus den Sesseln. In meinem schönen großen Puppenwagen thronte Hanni und später Heidi, die das Ende des Krieges auch nicht überlebte. Sie ist, wie so viele, auf dieser unbeschreiblich schrecklichen Flucht mit 1 1/2 Jahren direkt verhungert. Die 22jährige Mutti konnte nur weinend zusehen. Sie und Mausi hatten auch Typhus. Sie wurden wie durch ein Wunder und durch einen tatkräftigen sowjetischen Kommandanten gerettet.

Trautchen und ich, wir waren seit September zum Klavierunterricht angemeldet. Aber es wurde nichts Rechtes daraus, die Dame reiste beizeiten ins Reich. Wegen der vielen Partisanen in unserer Gegend war es eigentlich viel zu gefährlich, aber wir kleinen Mädchen mit Mausi im Puppenwagen zogen durch die Wälder und Felder bis in angrenzende Dörfer, um Früchte, Kastanien und Herbstlaub zum Pressen zu sammeln. Ich denke so gerne daran zurück.

Mein liebes, gutes, unersetzliches "Großchen" starb, und es war eigentlich noch gut; sie war 87 Jahre, uns so blieb ihr jedenfalls diese Flucht erspart, die alte Menschen doch fast nie überlebten.

Es kam eine Zeit der Angst: Nur noch Partisanen in unseren Wäldern, sogar in den Ställen fand man ihre Spuren. Deserteure wurden gesucht und gefunden. Papa schlief nun mit einem Revolver unter dem Kopfkissen- ein Geschenk von Walter. Ununterbrochen zogen Flüchtlinge vorbei - und Soldaten, die Front rückwärts. Manche Kompanien waren mit Panje - Wagen ausgerüstet. Diese Soldaten sangen russische Lieder, das klang so traurig und schön, und es wühlte etwas auf.

In den meisten Schulen wurden nun schon Notlazarette eingerichtet, in Sälen und anderen öffentlichen Gebäuden waren Flüchtlinge untergebracht. Man hatte sich beinah an das unheimliche Grollen der nahenden Front gewöhnt und auch an den ständigen Feuerschein am östlichen und nordöstlichen Horizont. Es war ja noch weit, es beunruhigte noch nicht so sehr. Nur der Gedanke an die Flucht war grauenhaft. Großer Gott, sollte es nun bitterer Ernst werden? Sollten wir unsere Heimat auf unbestimmte Zeit verlassen müssen? Unser liebes, liebes Liebsee?

Wir waren hier alle so glücklich gewesen. Nicht reich, nein, kein Herrenhaus, kein großer Bauernhof. Wir hatten einen mittleren Hof mit 30 Morgen (6 ha) eigenem Land und etwas Pachtland und Wiesen. Das war für Westpreußen wenig; in Mitteldeutschland wäre es viel gewesen. Riesenburg liegt in einer ganz liebreizenden Gegend.
Das Gehöft inmitten hübscher Obstgärten und daran Felder. Am Steilufer zur "Liebe" (einem Nebenfluß der Weichsel) standen zirka ein Dutzend Kiefern und Fichten, kein Wald, aber es saß sich dort so schön, wenn der Wind in den Wipfeln rauschte, und es träumte sich dort so herrlich; es blühten dort im zeitigen Frühjahr die ersten Himmelschlüsselchen, Leberblümchen, Veilchen und mehr. Abends im Sommer gingen wir gerne mit Großchen zur besagten Liebe die Füße waschen. Dann lag der Nebel so schön über dem Wasser. Und dann durften wir noch etwas in den Garten.
Die Mücken summten und am Park spielte Käte Fröse Akkordeon, andere tanzten und lachten, das klang so schön herüber - na und dann waren selbstverständlich die Füße nochmals schmutzig geworden.

Schön waren zu Hause auch die Sonntagmorgen. Dann roch es nach Papas Rasierwasser, nach Kaffee und Kuchen, nach Pudding und Braten. Es kamen Nachbarn, sie wurden bewirtet und dann zeigte Papa ihnen den Garten, die Bienen oder die Felder. Nachmittags gingen oder fuhren wir oft zu anderen auf Besuch.

Es war ein ganz flaches Land und man konnte schon lange das Gehöft sehen und Mama sagte dann wohl sehr nur, der Schornstein raucht tüchtig, sie kochen uns schon einen Kaffee. Ja, es war ein sehr schönes, sonniges Zuhause und nun wurde ernsthaft darüber diskutiert, wenn auch im Flüsterton, flüchten oder sich im Steilhang der Liebe verschanzen und sich von der Front hier überrollen lassen. Hier alles so stehen lassen müssen und in ungewisse Ferne ziehen war schon schlimm. Jetzt war es jedenfalls noch verboten, überhaupt über Flucht zu sprechen, wenn die Flucht dann aber angeordnet wurde, mußt man auch umgehend fort oder wurde erschossen, so hieß es.
Meine Eltern hörten leise Radio unter einer Wolldecke; denn Herr Fröse und andere SS-Leute umschlichen die Gehöfte und horchten an den Fenstern. Fröse war früher einmal ein Freund unserer Eltern gewesen!
Polo, unser Wolfshund konnte auch nicht mehr wachen, er war vor einiger Zeit erschossen worden.

Der Winter war nur zeitig gekommen mit Schnee und klirrender Kälte. Abends suchten kreuz und quer Scheinwerfer am Himmel und es fielen "Tannenbäume" (große Leuchtraketen) und Fallschirme herunter. Leuchtspur wurde geschossen. Alte Männer der Organisation Tod bauten Panzersperren. Abends sah man deutlich am östlichen Horizont den Feuerschein, und man hörte auch schon ziemlich deutlich die schweren Geschütze. Man flüsterte sich zu, der Russe sei schon in Deutsch - Eylau.

Meine Eltern und andere Bauern schlachteten zu dem erlaubten noch heimlich ein 2. Schwein, für alle Fälle, falls man doch flüchten mußte.

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Trautchen(2J.) und Ruthchen(5J.) v.l.

 

Weihnachten 1944

Trautchen und ich, war saßen in diesem Jahr mit Hanni traurig und allein in der guten Stube am Tannenbaum. Christel hatte aus Papas Bienenwaben Wachskerzen gedreht. Nun saßen sie mit Papa im Wohnzimmer und die Frauen weinten. Keiner wollte sich an den Christbaum setzen. Gustel gefallen, Großchen tot, von Mamas Brüdern und vor allem von Walter schon lange keine Nachricht; dazu die näher rückende Front und die bevorstehende Flucht im strengen, klirrenden Winter, das war sehr niederschmetternd; dagegen waren die fehlenden Süßigkeiten und Spielsachen nichts. Die gute Stube wurde nur an Feiertagen geheizt und war daher auch nicht richtig warm. Schlimmer war, daß keinem das Herz warm werden wollte.

In der 2. Weihnachtsnacht erwachte Papa, weil in der guten Stube das Fenster ausgehängt wurde und jemand schwer ins Zimmer sprang. Christel schlief mit ihren kleinen Mädchen im Kinderzimmer, während Trautchen und ich, wegen Kälte und Gefahr im Schlafzimmer der Eltern schliefen.

Papa richtete den Revolver auf die Verbindungstür und rief: "Wer ist da?" "Ein kleiner Fallschirmjäger", sagte Walter. Er war im September 19 geworden, hatte seine 2jährige Ausbildung als Fallschirmjäger beendet und war schon seit Oktober im Feindeinsatz. Bei seinem 3. Einsatz wurde er verwundet. Sie wurden über die Westfront geflogen. Zurück mußten sie sich durch die feindlichen Linien schlagen. Im Lazarett hatte Walter eine nette und hübsche Krankenschwester aus Suhl kennengelernt und wollte sich am 7. Januar zur Silberhochzeit unserer Eltern verloben. Diesen Sonderurlaub bis 14. Januar 1945 hatte er als "Auszeichnung für bewiesenen Mut" bekommen.

Wir haben danach nie wieder etwas von ihm gehört und müssen annehmen, daß er gar nicht mehr bei seiner Einheit angekommen ist, sondern schon unterwegs, bei den ständigen Bombardements auf Wehrmachtszüge, umgekommen ist. Die Eltern wollten ihn zur Dessertation überreden - der Krieg war längst verloren, das wußte doch im Grunde jeder - aber Walter sagte, daß wäre der sichere Tod, während er an der Front noch eine kleine Überlebenschance hatte. Beim nächsten Einsatz wollte er einfach in englische Gefangenschaft gehen. Papa hatte ja begonnen, in der Uferböschung der Liebe einen gut getarnten und abgesteiften Unterstand zu bauen, dort hätte man Walter verstecken können; jedoch wäre das Risiko viel zu groß gewesen.

Andere Bauern hatten auch mit solchen Gedanken gespielt - und dann sind doch alle Söhne zurück an die Front und die anderen alle geflüchtet, als es befohlen wurde, oder sie haben sich vorher erhängt! Die doch blieben, haben es dann auch allesamt nicht überlebt - und daß wir das alles überlebt haben - ist nur 1000 guten Zufällen zuzuschreiben. Jedenfalls verlief die Verlobung und Silberhochzeit in recht gedrückter Stimmung. Zwei Schulfreunde von Walter, die wie er zu den Fallschirmjägern gegangen waren, nahmen an der Verlobung teil. Erich fehlte der linke Unterarm und Max war der Fuß bis hoch hinauf amputiert worden. Was mögen diese drei wohl gefühlt haben? War Walter besser oder schlechter dran? Wir wissen nichts über sein Ende, über seine letzte Not. Er war doch fast noch ein Kind mit 19 und hatte gar nicht gelebt. Dennoch, solange einer von uns lebt, werden wir hoffen - wo es doch keine Hoffnung mehr gibt.

 

Die Flucht

Am 20. Januar 1945 dröhnten die Lautsprecher in der Stadt, daß wir flüchten müssen und es bei Todesstrafe verboten sei, zu bleiben. Wir hatten ja damit gerechnet, aber im tiefsten Inneren immer noch ein bißchen auf ein Wunder gehofft.

Unsere Nachbarin, Frau Ketz, kam trotz Kälte nur in der Schürze gelaufen und schrie, liebe, gute Frau Siercks wir müssen flüchten. Sie war außer sich. Mama beschwor Christel, mit den kleinen Mädchen 1 und 3 Jahren, per Bahn zu flüchten. Auf dem Flüchtlingswagen, auch in viele Federbetten gepackt, hatten die Kleinen doch kaum einen Chance zu überleben. Als dann aber der Zug nach 20 Stunden immer noch auf dem Gleis ohne Lok stand, total überfüllt, dunkel, eiskalt, versuchte Mama Christel und die kleinen wieder herauszubekommen. Es gelang nicht. Diese Panik und die Härte mancher Mitmenschen war unbeschreiblich! Wir konnten nur noch heiße Milch und noch mehr Warmes durch einen Fensterschlitz reichen. Wir fanden Christel im Spätsommer 1946 durch das Rote Kreuz wieder. Die kleine Heidi war tot. Verhungert. Christel und Mausi hatten auch Typhus gehabt, aber überlebt.

Am 21. Januar 1945 verließen wir per Pferdewagen unser ach so liebes geliebtes Heimathaus Liebsee mit den anderen Bauern. Menschen, die früher bei uns auf dem Hof in der Ernte geholfen hatten, legten noch Säcke und Koffer mit auf unseren Wagen und Frau Retzlaff hängte ihren Schlitten an. War waren 3 befreundete Bauern, Nachbarn, die unbedingt zusammenbleiben wollten; aber bei Ketz` stürzten die Pferde schon in Riesenburg, wir hörten lange nach Kriegsende erst wieder zufällig von ihnen. Mit Michels sind wir bis Danzig gemeinsam geflüchtet und haben uns stets gegenseitig treu geholfen.

Der 21. Januar 1945 war ein Sonntag, sonnig und klirrend kalt. Zwischen Riesenburg und Marienburg in Nikolaiken hielt der Treck und wir versuchten, etwas zu essen. Aber Brot, Wurst, Speck alles war hart gefroren, so daß weder Zähne noch Messer etwas ausrichten konnten. Die Flasche mit "Korn", die die Männer kreisen ließen, war zum Teil auch gefroren. Es waren sehr tiefe Minusgrade. Marienburg mußte umgangen werden. Dort waren zur Zeit gerade schwere Bombenangriffe. In Höhe der Stadt bekamen wir heißen Malzkaffee. Er wärmte fast nicht.

Den ersten Tag auch die beiden folgenden Tage treckten wir täglich 45 - 50 Kilometer. Immer die Front hart auf den Fersen! Papa hatte Asthma und sein Herz war schon schwach. Er war mehr tot als lebendig. Alles, was die Eltern sich in harter Arbeit, von früh vor Tage bis spät in die Nacht geschaffen hatten, mühsam und schwer, alles das mußten sie verlassen, fort, damit der Krieg es verwüsten kann. Es tröstete keinesfalls, daß es ja tausenden Menschen auf der Welt so erging, nein, das machte es höchstens alles noch schlimmer.

Abends, meist so gegen 21 - 22 Uhr wurde in einem Ort gerastet. Die Frauen liefen wegen Übernachtungen in die Häuser. Mama mußte sich zuerst um die Pferde kümmern, Papa war zu krank, erst danach konnte sie ein Quartier für uns suchen. Bekamen wir keines mehr, dann schliefen wir in den Pferdeställen im Stroh, das war auch wärmer. Die Leute der Orte begaben sich auch gerade auf die Flucht. In mancher Nacht hatte man sich kaum ausgestreckt und war völlig übermüdet und erschöpft eingeschlafen, hieß es: auf, auf, weiter, der Russe ist hinter uns. Die Kinder weinten. Trautchen auch. Sie durfte nicht auf den Wagen und mußte, wie wir alle: laufen.

Wir hatten uns schon die Fersen blutig gescheuert. Aber Mama hatte vorgesorgt. Wir zogen nun über die gestrickten Strümpfe dicke Schafwollsocken und Holzpantoffeln. Hinten am Wagen war ein Strick gespannt, dort hielten wir uns fest und mußten laufen, um nicht zu erfrieren. Es sind sehr viele Kinder und alte Leute auf den Wagen in Decken und Federbetten gehüllt, erfroren. Sie schliefen ein und erwachten nie mehr. Es schrie dann eine Frauenstimme, so fürchterlich, oh, so fürchterlich - es waren ihr alle Kinder erfroren. Solches passierte schon in den ersten Tagen.

Laufend kam Feldgendarmerie nach Deserteuren suchen und nach eventuell noch brauchbarem Kanonenfutter, alten Männern und größeren Kindern. Die Fahrstraße durften wir Flüchtlinge nicht benutzen, die war der rückwärts, Richtung Berlin, flüchtenden Wehrmacht vorbehalten. Überall lagen Leichen, alte Männer, alte und junge Frauen, in schönen Kissen verpackt tote Kinder. Solche Anblicke raubten den Menschen die Nerven und den Verstand.

Tote Pferde, zerbrochene Wagen, ausgebrannte Autos, usw. Manchmal hingen Soldaten (Deserteure) oft sehr jung mit einem Schild. Hin und wieder wurden wir von feindlichen Tieffliegern angegriffen. Die einen liefen dann schnell weg vom Treck und buddelten sich, so gut es gehen wollte, im Schnee ein. Sie blieben auf dem weißen, leuchtenden Schnee dennoch gut sichtbar. Wir anderen hielten es für richtiger, unter die Wägen zu kriechen. Dort bestand natürlich die Gefahr, wenn die Pferde durchgingen, zermalmt zu werden. Immerhin, es gab nur einzelne Tote und kleinere Verletzungen.

Mehr Tote und Verletzte gab es schon bei den laufenden Abstürzen. Wir sind sehr viele Tage und Kilometer auf dem Nogat- und dann auf dem Weichseldamm entlang geflüchtet. So viele Schmiede gab es einfach nicht, um alle Pferde vor der Flucht scharf zu beschlagen. Die abgelaufenen Hufeisen waren eine furchtbare Rutschgefahr. Die Pferde hatten keinen Halt bei der Schneeglätte. Hufe umwickeln hielt nur sehr kurz vor und war daher zwecklos. Papa hatte die abgenützten Hufeisen lieber gleich ganz weggenommen und wir fanden, das sei das Beste, bis wir Gelegenheit zum Scharfbeschlagen haben würden. Trotzdem stürzten die Pferde. Ich hatte mich ein einziges Mal kurz auf den Wagen gesetzt, die Füße voller Blasen, zum Teil ohne Haut, da passierte es. Wir wollten noch schnell über die Weichselbrücke bei Dirschau. Die Soldaten riefen Tempo, wo bleibt ihr, die Brücke fliegt jeden Augenblick in die Luft, dann seht, wir ihr rüber kommt, sonst ist der Russe noch vor euch rüber. Papa trieb die Pferde an. Dabei mußte auch er laufen. Er bekam keine Luft und lief ganz gebückt. Die Brücke war spiegelglatt. Mama, die den schleudernden Wagen abstützen wollte, rannte plötzlich vor zu Papa und zu den Pferden. Da lag Lotte schon und riß das andere mit. Wir hatten aber Glück, es war nichts gebrochen und `rüber kamen wir auch noch. Eine Stunde Später flog die Brücke in die Luft. Wir hatten einige Häuser weiter eine Unterkunft gefunden; denn Papa konnte an dem Tag nicht weiter, einige andere auch nicht, und die Deichsel mußte repariert werden. Während Papa reparierte, war Tieffliegerangriff in Dirschau. In der Nacht wurde Dirschau bombardiert. Auch ein Teil unseres Trecks ist bei diesem Bombardements getroffen worden. Soldaten hatten Bretter und Äste über die Weichsel gelegt zum Einfrieren. Flüchtlingstrecks, die es nicht mehr vor der Sprengung hinüber geschafft hatten, versuchten es nun bei Einbruch der Dunkelheit. Wir winkten von der anderen Seite aufgeregt, im Herzen bittend, daß sie es doch noch schaffen mögen. Aber plötzlich waren Tiefflieger da. Meist kamen sie doch nur mittags. Oh, war das furchtbar. Guter Himmel, diese Schreie von Menschen und Tieren. - - -

Am anderen Morgen zogen wir weiter. Mama ging mit anderen Frauen noch einmal zur Unglücksstätte. Es war entsetzlich: Leichen, Leichen, kleine tote Kinder, zerbrochene Wagen, Betten und Hausrat - alles, alles lag im offenen Fluß.

Am nächsten Nachmittag rastete unser Treck in einem riesigen Gasthaus bei Neufietz. Mama mußte sich, wie immer, zuerst um die Pferde kümmern, so daß wir wieder einmal die Letzten waren und gerade noch in dem riesigen eiskalten, zugigen Saal unter der Bühne einen Lagerplatz bekamen. In allen Räumen wurde geheizt und gekocht. Der nahe liegende Wald lieferte Holz und Reisig. Der Keller des vom Wirt verlassenen Gasthauses lieferte Kartoffeln, etwas zurückgelassenes Eingemachtes und eine halbe Kiste Puddingpulver. Trautchen und Hildchen Karkutt kochten sogleich mit Wasser und diesem Pulver einen Pudding. Mir schmeckte er nicht. Er bestand fast nur aus Klümpchen. Es hieß, Bäcker dürfen nicht flüchten bzw. erst zuletzt. Sie mußten sehr schnell backen. Das lange erstandene Brot war dann heiß und völlig klitschig. Aber es schmeckte prima.

Bei all` dieser Ernährung, die keine war, ist es zu verwundern, daß nicht alle Menschen krank wurden, wie es zu normalen Zeiten sicherlich der Fall gewesen wäre.

Die meisten Leute hatten sich hier also Pellkartoffeln gekocht. Leider waren wir von jeder Kochgelegenheit zu weit entfernt. Zur Nacht sollten alle Feuer gelöscht werden. Das tat man freilich nicht. Um Mitternacht begann dann das Dachgeschoß und das Obergeschoß zu brennen. Wir waren gerade eingeschlafen, weil im Saal einfach keine Ruhe eintreten wollte. Man war gereizt und es wurde herumgestritten.

Meine Mutter erwachte, Sirenen, Schreie, Kommandos! Fliegerangriff? Waren die Russen hier? Dann kam der Ruf : Der Stall brennt, die Pferde raus! Im Saal kein Licht. Mama taste nach ihren Kleidern (Auf der Flucht trug sie zwei Mäntel). Endlich- schnell auf zum Stall.

Feuer, Rauch, Wasserspritzen, irre, Menschen die scheinbar kopflos, in panischer Angst- bereits befreite Pferde. Jeder versuchte erbittert und rücksichtslos sich selbst, seine Habe und seine Angehörigen zu retten. Manche nur sich selbst.

Als mein Marthakind in diesem burgähnlichen Hof, der von brennenden Gebäuden eingeschlossen und jetzt schlimmer als die Hölle war, unsere Pferde eingefangen hatte, war unser Wagen durch andere und durch von Soldaten gerettetem Inventar total verkeilt. Hoffnungslos. Papa, ich und Trautchen, wir schliefen noch! Mama weinte vor Verzweiflung und kämpfte und arbeitete verbissen weiter. Als einige Soldaten diese Frau so kämpfen und arbeiten sahen, halfen sie, den Wagen frei zu bekommen. Da sah Mama Frau Karkutt, die fertig angezogen, um ihre Habe auf unserem Wagen bangte.

Mama schickte sie sofort los, Mann und Kinder zu wecken und herzubringen. Niemand hatte das getan. Es sah dort wirklich jeder nur sich. Jedenfalls hätte ich an Mamas Stelle zuerst Kinder und Mann gerettet und dann die Tiere; aber Mama war wohl zu sehr Bäuerin.

Als Frau Karkutt uns weckte waren wir im Qualm schon fast erstickt. Sie gab uns unser Kleiderbündel, Betten und Taschen in den Arm und sagte, es brennt, zieht euch draußen an. Kommt immer hinter mir her, eure Mutter hat jetzt keine Zeit. Sie und noch jemand schleppten Papa ins Freie, der am Ersticken war. Wir Kinder waren uns der ganzen Gefahr keinesfalls bewußt, und wir konnten gut beobachten: sehr viel Großes, viel Kleines und Gemeines, Hilfsbereitschaft und Feigheit, klares, besonnenes Retten, wie recht jämmerliche Hilflosigkeit.

Trautchen und ich, wir behielten Mama im Auge und zogen uns fertig an; was bei dem Gewühle nicht leicht war, denn man konnte die Sachen keinen Augenblick aus der Hand legen. Frau Karkutt hatte Papa in eine leere Baracke eines nahegelegenen Militärlagers gebracht. Dort bekam er ein Bett und heiße Brühe. Michels waren auch schon dort. Sie ließ also Papa und Hildchen in der Baracke bei den anderen und holte mich und Trautchen.

Inzwischen war es auch Mama gelungen, den Wagen plus Pferde durch den brennenden Torbogen zu bekommen. Nun suchte sie ihre große Geldtasche. Zum Glück hatte die eine andere Bäuerin und gab sie auch ab. Im Barackenlager angekommen, bekamen wir auch solche "Marschsuppe", so nannte sie der Soldat. Sie war sehr heiß, sehr fettig und schmeckte gut. Nun bekam jeder eins dieser zweistöckigen Betten zugewiesen. Sie enthielten Matratzen und Wolldecken. Einige blieben unbelegt. Weiter gab es noch einen eisernen Ofen auf diesem stand ein Topf voller Suppe. Ein langer Tisch mit Stühlen, einige Spinde sowie ein Eimer Koks waren das gesamte Inventar. Vor allem war es herrlich warm. Natürlich schliefen wir oben. Alle waren hier freundlich. Wir hatten nun fürs erste Sicherheit, Geborgenheit und Wärme.

Frau Karkutt und Ernst Michels gingen nun Mama entgegen. Wir konnten alle Pferd und Wagen im Soldatenlager unterbringen. Wir hatten fürs erste ein annehmbares Asyl gefunden. Papa erholte sich nur mühsam. Ein Weiterflüchten war erst einmal nicht möglich - so nahe uns der Feind auf den Fersen war! Aber erholungsbedürftig waren einfach alle, und so blieben wir fast 3 Wochen.

Die Offiziere kamen uns oft besuchen. Hauptsächlich wohl wegen Trudchen Michels. Sie war 20 und recht hübsch. so zwischen den Unterhaltungen drängten sie uns aber trotzdem immer zur Weiterfahrt. Nach ein paar Tagen zog der größte Teil der Soldaten und Offiziere ab und nahm die Familien ohne Gespann mit. Weder die völlig ratlose Frau Michels noch der 14jährige Ernst konnten sich dazu entschließen, und unser Papa war mit nichts zu überzeugen, alles stehen zu lassen und bloß mit Handgepäck mit den Soldaten zu fahren. Allerdings haben wir später trotz Rote - Kreuz - Suche nie wieder etwas über die mitgefahrenen Familien gehört. Die Soldatenautos wurden eben auch sehr beschossen. Wir Zurückgebliebenen fühlten uns indessen hier sehr wohl. Die Soldaten brachten uns laufend frisches Fleisch und wir hatten auch genügend auf dem Wagen. wir bekamen genügend Milch und Brot - und vor allem hatten wir hier Wärme und Behagen. Der strenge Winter, die verstopften Straßen mit allen möglichen Strapazen lockten uns keinesfalls.

Nun, wir machten es uns so gemütlich, wie es eben gehen wollte. Die Frauen strickten oder pflegten sich ein bißchen und wir Kinder stöberten neugierig im ganzen Lager herum.

Nach einem schweren Bombenangriff wurden wir dann aber energisch aufgefordert, weiter zu flüchten, da der Rest des Lagers nun geräumt würde. Und es war immer noch bitter kalt. Oft zwischen 20° und 30° minus. Wir wären soo gerne geblieben. Wir waren des Treckens, der argen Kälte und verstopften Straßen so müde.

Wir treckten nun mit 2 Wagen. Ich sehe die Silhouetten der beiden Wagen vor mir. Papa fand ein Spitzdach zweckmäßiger. Also hatte er einen entsprechend stabilen Leistenverschlag gezimmert und 2 Läufer unter den großen Teppich aus der "guten Stube" mit dem Rücken nach außen darüber gelegt.

Michels hatten den Aufsatz viereckig gebaut. Sie hatten ihren 12jährigen Jungen, der Idiot war mit, und Frau Michels saß ständig mit ihm im Wagen. Sie hatte große Angst, daß die Nazis diesen unheilbaren Irren - ihre furchtbare Last - erschießen könnten.

Nach 3 Tagen mußten wir uns dann von Michels trennen. Es war für Ernst und Trudchen gut gewesen, daß sie manchmal Mama als moralische Stütze hatten - mit ihrer Mutter war es nicht, wie es aber auch für Mama mit dem sehr kranken Papa und uns 2 kleinen Mädchen oft gut war, Ernst und Trudchen zu haben. Über eisglatte Stellen oder aufgerissenen Straßen wurde zuerst ein Wagen und dann der andere gemeinsam rüber gebracht.

Aber jetzt, kurz vor Danzig bekam Papa Bedenken - zuvor hatte er sie nicht - Michels und uns bei seinen Danziger Verwandten unterzubringen.

So nahmen wir von liebgewordenen Freunden Abschied. Papa war es sehr peinlich. Mama und auch wir bedauerten dies von ganzem Herzen. Nun waren wir ganz allein. Michels sind dann doch mit den Soldaten weiter geflüchtet und sind bis ins Ruhrgebiet gekommen und haben nun dort einen Hof.

Die Verwandten waren bald gefunden. Sie waren sehr herzlich zu uns und es war schön und so friedlich dort. Sie wohnten auf einem weit abgelegenen Bauernhof bei Danzig - Langenfurth. Bombeneinschläge hörten wir vom Danziger Hof und vom Stadtkern, also von weit her. Wir waren solches schon näher gewöhnt. Hier war so eine schöne ganz unbeschreibliche Ruhe und friedlich war es hier. Friedlich, das waren auch nach Militärbetten: Plüschsofas. gehäkelte Deckchen, Kissen und Heiligenbilder, wie in Großchens Stube. Es war Anfang März. An manchen Stellen war schon der Schnee weg und es blühten Schneeglöckchen. Aber die Cousinen und der Onkel von Papa sagten, in spätestens 8 Tagen sei der Russe hier, da bliebe vermutlich kein Stein auf dem anderen - und wer nicht polnisch spricht, sollte versuchen, wegzukommen; denn die hier lebenden Polen seien voller Haß auf die Deutschen.

Unser todkranker Papa, er wollte einfach nicht mehr `raus. Er wollte nichts, als einen warmen Ofen und Ruhe. Aber die Gefahr war groß. Papa sprach recht gut polnisch und russisch. Um die Jahrhundertwende hatte man in Danziger Schulen deutsch, polnisch und russisch gelehrt. Auch etwas englisch. Das war hier jedoch unnütz. Mama und wir Mädchen sprachen leider nur deutsch.

Wir flüchteten als weiter in Richtung Reich. Papa mehr tot als lebendig, taumelte, sich an der Runge des Wagens festhaltend, hinter den Pferden her. Mama hielt das Leitpferd am Zaum, oder aber griff in die Speichen, wenn es besonders glatt wurde oder bergab ging. Sie hatte auch schon keine Kraft und keinen Mut mehr; wenn sie Papa und uns Mut machen wollte und lachte, sah es so zerquält, mehr wie weinen aus.

Es war nicht mehr ganz so klirrend kalt. Aber die feuchte Kälte drang bald durch die Kleidung und war beinahe noch schlimmer. Auf dem Schneematsch rutschten die unbeschlagenen Pferde immer öfter. Mamas Zähne waren vereitert. Sie war gerade in Behandlung gewesen, als wir flüchten mußten.

An einem Hohlweg, ca. 10 - 15 Kilometer hinter Danzig, hielt uns ein Trupp SS-Leute an. Woher, wohin, wieso so allein? Sie benahmen sich genauso ekelhaft, wie sich auch im Film dargestellt werden. Nachdem sie, widerlich lachend, meinen Eltern einige Fragen dumm beantwortet hatten, sagten sie, sollte der Russe noch weiter vordringen, würde man das Flüchtlingsproblem dahingehend lösen, daß man die Flüchtlinge überall in Kessel zusammentreiben würde, ein paar Handgranaten, ein paar MG - Garben, so einfach- keine Frage. Sie riefen uns noch hinterher, also betet, daß wir die Russen noch zum Stehen kriegen.

Den 3. Tag, nachdem wir von Onkel Franz aufgebrochen waren, ging es dann nicht mehr weiter. Kalter Wind, nasser Schnee fiel. Alle Straßen waren total mit Wehrmachtsfahrzeugen verstopft. Seit kurz hinter Marienburg waren wir fast ausschließlich im sogenannten polnischen Korridor entlang geflüchtet. Nun waren wir im volksdeutschen Dorf Robberkau angekommen.

Der deutsche Ortsbauernführer war sehr um uns bemüht. Er sagte, er sei froh, hier noch ein paar Deutsche zu haben. Die Pollacken wollten ihm ans Leben. Trautchen und mir wurde doch mächtig schauerlich zumute, als er von den "volksdeutschen Polen" und deren Hinterhältigkeiten erzählte. Er fragte, ob Papa eine Waffe habe. Dieser gab eine zweideutige Antwort. Der "OB" verstand. Dann ist es gut, sagte er.

Pferde und Wagen konnten auf seinem Hof bleiben, die versorgte er persönlich. Sein Haus wäre schon voll verwandter Flüchtlinge; aber er brachte uns zu einer "halbwegs guten" volksdeutschen Familie. Das wäre auch sicherer für uns. Damit sollte er leider Recht haben. Am Tage, nachdem uns die Front überrollt hatte, ist er von Polen erschlagen worden.

Bei Frau Miotka und ihren zwei deutsch sprechenden Kindern ging es uns sehr gut. Wir bekamen ihre große gute Stube. Sie tat wirklich alles für uns. Wir Kinder und auch die Erwachsenen waren bald recht gute Freunde. Sie war hochschwanger. Mama schenkte ihr Kleider, Mäntel, Wäsche und Federbetten. Mama hatte über diesen Bauernführer 4 Plätze für ein Schiff erhalten, das uns von Gotenhafen aus Deutschland herausführen sollte. Aber Papa wehrte sich hartnäckig, die Pferde zu verkaufen. Nach Lage der Dinge war es sicher unklug von Papa, und Mama hatte für diese Karten einige Hunderter bezahlt.

Aber, was ist in solchen Zeiten dumm und was ist klug? Dieses Schiff ist schließlich - nach Augenzeugenberichten - noch im Hafen auf eine Mine gelaufen, und es hat keine Überlebenden gegeben. Immerhin hatte es sich herumgesprochen, daß unsere Eltern diese Plätze gebucht hatten, und so haben später "Augenzeugen" Christel erzählt, sie selbst hätte gesehen, wie wir 4 zerrissen worden sind. Sie wußten sogar Einzelheiten zu berichten, so z.B. sie Papa ein Bein abgerissen worden und unsere Leichen wären mit den anderen im Hafen herumgetrieben. Christel mußte das ja glauben. Sie hat uns daher auch nicht mehr gesucht, bis wir sie 1946 durch das Rote Kreuz fanden.

Frau Miotka wohnte in der "Alten Molkerei" am Ausgang des Dorfes neben der Fernverkehrsstraße, zur Zeit Heerstraße. Die Front flutete lückenlos rückwärts. Gegenüber war der Krämerladen und Gasthof, und man mußte lange warten, bis es gelang, über die Straße zu kommen. Im Gasthof erzählten die Soldaten furchtbare Storys von gerade überstandenen Kämpfen, über feindliche Grausamkeiten, und daß es heller Wahnsinn wäre, mit dem völlig ausgeblutetem Heer noch immer weiter kämpfen zu wollen.

Mama packte kleine Handkoffer. Ich mußte mittels Kohleeisen bügeln. Holzkohle holte ich von den Lagerfeuern der Soldaten. Miotkas Kinder hatten uns die nähere Umgebung gezeigt. Es war eine landschaftlich reizvolle liebliche Gegend. Wir verabredeten, wo wir im Sommer spielen wollten. Zur Zeit schoß es überall und immer, und man hatte sich fast daran gewöhnt.

Frau Plotka kam und sagte, im Nachbarort seien schon die Russen. Papa befragte die Soldaten; die sagten ja, man habe das Dorf immer hin- und rückerobert, aber morgen wäre sicher der Russe schon hier.

Frau Miotka und wir beschlossen am Abend, morgen in aller Frühe zu ihrer Schwester in das polnische Dorf über dem Berg hinter dem Wald zu gehen, bis die Front vorbei wäre. Hier, direkt an der Straße, sei es zu gefährlich. Beide Seiten der Front könnten hier feindliche Soldaten vermuten, und das Haus gezielt beschießen. Sie erwartete täglich ihr Baby. Ihr Mann kämpfte bei den Deutschen. Wir legten unser notwendigstes Handgepäck griffbereit, gingen angezogen zu Bett und löschten das Licht. Trotz der Angst und der Aufregung waren wir eingeschlafen.

Plötzlich in der Nacht traf ein Kanonenschlag das Haus. Es bebte so sehr, daß einige Wände im Erdgeschoß einstürzten. Dort lagen deutsche Soldaten. Das war für uns sehr gefährlich. Der Schuß hatte ein zimmergroßes Loch gerissen. Wir zogen uns im Dunkeln rasch fertig an und nahmen unsere Schulranzen mit einiger Unterwäsche auf den Rücken. Mama nahm einen Handkoffer - unsere letzten Wertsachen beinhaltend - unsere restliche Habe lag ja auf dem Flüchtlingswagen - und Papa nahm einige Wolldecken. Miotkas kamen auch und so tappten wir vorsichtig ums Haus. Draußen war alles ein einziger Brand. Sonst brannte alles. Gebrochen deutsch sprechende Soldaten zogen uns hinter einen Schuppen. Tichi, tichi das hieß: still, ruhig. Tank kapuut (ihr Panzer war zerstört) , sagten sie. Kugeln pfiffen und zwitscherten uns um die Ohren. Wir versuchten, über den Berg in den Wald zu kommen. Aber beide Fronten hielten uns im Dunkeln für feindliche Soldaten. Wir wurden massiv und gezielt beschossen und mußten immer wieder umkehren. Natürlich, so tief es nur gehen wollte, in den Schnee gefurcht, den Kopf tief unten. Der Sohn unserer Wirtin hatte sich in die Hosen gemacht, schlimmer: Frau Miotka bekam ihr Baby. Irgendwann, nach Ewigkeiten voller Todesangst, kamen wir doch über den Berg und in das Wäldchen. Plötzlich stand dort ein blutüberströmter Soldat vor uns mit einer Panzerfaust in der Hand. Er war höchstens 17, 18 Jahre. Wir nahmen ihn mit zu Frau Miotkas Verwandten. Dort wußte man schon, daß wir deutsche Flüchtlinge aus Westpreußen waren. Diese "Volksdeutschen" verstanden plötzlich kein Wort deutsch mehr, deshalb konnte sich nur Papa mit ihnen unterhalten. Man hatte hier einen furchtbaren Haß auf die Deutschen, verband den Soldaten aber trotzdem. Es war eben nicht ganz sicher, ob nicht eventuell die Deutschen den Ort zurückerobern und Sühne fordern könnten.

Er durfte aber nicht bleiben. Das war sehr hart, zumal wir an Walter und sein eventuell ähnliches Schicksal denken mußten; unser Bitten half nicht. Wir bekamen warmen Eintopf und durften im Nebenzimmer auf einer Strohschütte den Rest der Nacht schlafen. Früh gab es Brot, Schmalz, Wurst und Malzkaffee. Frau Miotka hatte ein Mädchen. Sie sagte zu Mama, wir sollten ins Dorf zurückgehen zu Frau Plotka. Man wolle uns hier nicht behalten angeblich, weil man Angst vor den Russen hätte. Man gab uns noch ein Mittag. Es kamen sowjetische Soldaten. Streng, finster. Der Offizier zu Pferde. Er sagte zu Papa, wir sollen im Dorf Pferde und Wagen zusammensuchen und nach Hause fahren, hier seien schlechte Leute. Er war aber recht abweisend.

Wir gingen also ins Dorf auf leerer und teils sogar auf voller Munition. Was wir hier sehen mußten an Zerstörtem und vor allem an Toten war so furchtbar und entsetzlich, das werden wir, solange wir leben, nie mehr vergessen können! Wir vergaßen fast unsere eigene Todesangst darüber. Überall sowjetische Soldaten mit umgehängter MPi, immer den Finger am Abzug, aber - freundlich, lustig und siegesstolz.

Bei Frau Plotka waren etwa 20 sowjetische Soldaten untergebracht. Man hatte eine Hauswand der Lehmkate durchbrochen und schüttete dort Wasser und Unrat hinaus. Pferde sahen herein. Die Soldaten tanzten ihre Siegestänze, sangen, kochten und schickten Pakete in die Heimat. Trautchen und ich wir hatten Schweigeanordnung, was aber hier zwischen den halbblöden polnischen Kindern nicht weiter auffiel. Die Soldaten gossen Sprit auf den Tisch und zündeten ihn an, um zu prüfen, ob er noch hochprozentig genug und des Trinkens wert sei, dann tranken sie.

Den Polenfrauen und auch Mamas Angst wuchs, zumal man Papa aufforderte, mitzutrinken. Sie wurden ganz böse als Papa sagte, er könne wirklich nicht, er sei sehr krank. Ach was, das wollte man nicht gelten lassen; wenn er nicht trinken wolle, sei er ein Faschist und müsse sofort erschossen werden. Papa trank, lief aber blau an und fiel um. Die Frauen flößten im Wasser ein. Ein Offizier riß ihm die Jacke, Weste und alles vom Oberkörper und schleppte ihn raus, brachte ihn aber gleich wieder herein und legte ihn in eins der beiden Betten. Trautchen und ich, wir weinten bitterlich. Mama war auch schon lange fort. Sie war vergewaltigt worden von zwei jungen Bengeln, die brachten ihr dann einen Haufen wirklich wunderschöner Kleider und Morgenröcke. Aber Mama wollte nun wohl auch nicht mehr leben, oder es gingen ihr einfach die Nerven durch; jedenfalls war es schon Selbstmord, was sie tat. Sie nahm einen dort liegenden arg dicken Knüppel und schlug wie rasend auf diese Bengel ein. Trautchen fand eine Luftpumpe und schlug gleich mit. Ich erwartete, daß einer der Soldaten jetzt Mama erschießt. Nein! Man amüsierte sich großartig und lachte schallend über den Zorn, Scham und Schmerz dieser Frau. - Frau Plotka beruhigte Mama und sagte ihr leise, sie solle allen Frauen ein Kleid abgeben, zumal sie doch Deutsche sei. Die jungen Frauen hätten ein Wort verloren, daß sie es den Russen sagen wollten, daß wir Deutsche seien. Es waren allesamt sehr kostbare Kleider, aber Mama gab sie alle Frau Plotka, damit sie diese verteile.

Die Polinnen waren ja für dererlei Festgewänder. Mama hätte auch in vernünftigem Zustand diese fremden Sachen nicht haben mögen, ganz abgesehen von den Umständen unter denen sie dies bekam. Als die Soldaten die Aufteilung sahen, haben sie allerdings einen großen Teil wieder zurückgenommen. Es war eine entsetzliche Nacht und wenn wir zurückdenken sagen wir: eine Höllennacht.

Der Offizier hatte Papa wieder auf die Beine gebracht. Sie sprachen über Revolution und Kommunismus, die Worte konnten wir verstehen und der Offizier sagte, Papa sei ein guter Kommunist und würde ihn sofort als Bürgermeister über dieses verlauste Pollackennest einsetzen, aber, aber wir sähen recht vornehm gegen diese Polen hier aus und so sauber, er traue ihm nicht so ganz. Vielleicht sei er ein faschistischer Spion. Papa erzählte uns rasch alles und ermahnte uns nochmals, nicht zu sprechen. Mama weinte noch mehr. Sie hatte Angst, wenn Papa weiter trinken müsse, käme es doch noch raus, daß wir Deutsche sind - und alle sind betrunken...!

Mama war überzeugt, daß wir alles diese Nacht nicht überleben würden; sie setzte sich auf den Schemel in der Ecke, legte den Kopf auf die Arme und weinte still. Sie war total fertig.

Die Soldaten aßen, tranken, sangen und tanzten, daß die Hütte bebte. Sie brachten uns auch so arg fettes Fleisch. Wir schüttelten den Kopf, dann Wurst, dann Schokolade. Die Polenfrau gab uns trockenes Brot und gerade gemolkene Milch, die war warm und sehr schmutzig, aber wir tranken und aßen. Von den Soldaten etwas zu nehmen glaubten wir, hätte Papa verboten, aber er sagte, das dürfen wir, bloß kein Wort reden. Er brachte uns die Schokolade. Wir teilten ehrlich mit den Polenkindern und die Soldaten sahen zu und freuten sich. Aber, es war schon schlimm. Immer und immer wollten sie gerade mit mir und Trautchen reden und spielen, als ahnten sie etwas. Trautchen haute und puffte nach ihnen und ich guckte sie groß und traurig an, wie: bitte laßt uns doch in Frieden. Wir sollten uns und auf das Stroh zwischen den beiden Betten legen, das zur Hälfte aus Läusen bestand, aber Frau Plotka rückte ihre 4 Kinder, die quer in einem der beiden Betten lagen, wo unser Marthakind am Fußende weinte, noch enger zusammen und legte mich und Trautchen dazwischen, dabei fortgesetzt die Soldaten anzeternd, die dies eigentlich verhindern wollten.

Die Kinder starrten vor Schmutz, aber Frau Plotka flüsterte uns leise zu, wir sollten uns hier zwischen den Kindern möglichst versteckt und ganz ruhig verhalten, und wenn uns jemand hier herausholen wollte, sollten wir laut schreien, beißen und kratzen. Sie war sehr aufgeregt und versuchte uns den Ernst der Lage mit Worten und Gesten begreiflich zu machen. Die Soldaten hätten ganz Böses mit uns vor. Na, Trautchen war 8 und ich 11 Jahre. Immerhin, vielleicht hat diese Frau uns damals das Leben gerettet. Es wurden da viel entsetzliche Dinge erzählt. Wir taten, wie uns geheißen und verkrochen uns förmlich unter Frau Plotkas schmutzigen Kinderlein.

Am nächsten Morgen schien die Sonne herein. Alle waren schon geschäftig, als wir Kinder erwachten. Wir bekamen warme Milch und Brot mit Marmelade. Die Frauen sagten uns, wenn uns unser Leben lieb wäre, sollten wir weiterziehen. Noch eine Nacht hier uns sie garantieren für nichts. Mama und Papa waren derselben Meinung. Das Wetter war schön milde und so irrten wir los. Wohin wußten wir nicht. -

Papa entsann sich eines entfernten Neffen, der hier, etwas 15 km entfernt, eine Molkerei gepachtet hatte. Die Soldaten ließen uns jedoch nicht so ohne weiteres fort. Warum fort? Wohin? Papa sagte, wir wären bis zum Abend zurück, wir wollten nur einen Neffen besuchen. Man war mißtrauisch. Glaubte uns aber schließlich, da wir kein Gepäck hatten. Mamas Köfferchen mit Geld und letzten Wertsachen war früh nicht mehr da gewesen. sie hatte nur noch ihre Tasche, wir unseren Ranzen und Papa 2 Wolldecken zusammengerollt. Die Soldaten zeigten auf die Decken und sagten lachend, es sei noch zu früh, wir sollten zuerst eine Schüssel voll heißer brühe mit Fleisch mit essen, bevor wir gehen. Das taten wir gerne. Zumal es völlig ungewiß war, wann wir wieder eine warme Mahlzeit bekommen würden.

Wege und Straßen waren in einem schlimmen Zustand und mit allen erdenklichen Fahrzeugen völlig verstopft. In den Straßengräben, in denen wir wandern mußten, lagen tote Menschen, tote Pferde und Hunde, zerbrochene Wagen, zum Teil noch beladen, ausgebrannte Autos und ähnliches. Wir versuchten es einmal am äußersten Straßenrand zu gehen, wären aber fast überrollt worden. Diese schweren Fahrzeuge, Panzer, Geschütze, Lkws zogen in unendlichen Kolonnen tagelang, pausenlos westwärts, sich gegenseitig - wie spielend - überholend, das wirkte ungemein selbstsicher und stark - und beeindruckte, unbedingt!

Soldaten der Roten Armee fragten uns, woher, wohin. Sie sagten, wir sollen keinesfalls in den Wald gehen. Dahinein werde laufend geschossen, wegen eventuell versteckter deutscher Soldaten. Bleibt immer sichtbar am Waldrand, sagten sie. Wir haben es beherzigt.

Ein in unserer Richtung fahrender Tafelwagen hielt und man fragte wohin. Papa sagte es. Nun, das wäre kaum ein Umweg, da könnten wir mitfahren. Papa hatte uns schon einige polnische Vokabeln beigebracht: auch durch die Polenkinder hatten wir einige gelernt. Trotzdem, wieder Sprechverbot für uns drei. Man bot uns fettes Fleisch an. Es war gekocht, berußt und mit langen Borsten. Mama überwand sich als einzige und aß, was ihr großes Lob einbrachte. Charascho Kubjita, klopfte man ihr auf die Schulter.

Die Soldaten erfragten unterwegs das Haus des Neffen Grimm und fuhren uns bis dorthin. Sie sagten, in 2 - 3 Stunden kämen sie zurück, dann würden sie uns wieder mitnehmen. Sie erzählten, sie seien in der nächsten großen Stadt stationiert, vermutlich also Neustadt, meinte Papa, dort wäre es recht günstig für uns, eventuell in einer leeren Wohnung oder bei deutschen Leuten fürs erste unterzukommen und abzuwarten, wie sich alles weiterentwickelt.

Alles in allem müssen wir sagen, bis auf Mamas Vergewaltigung ist uns Vieren durch die russischen Soldaten kein Leid geschehen. Sie haben uns immer geholfen, und vor den haßerfüllten Übergriffen der Polen waren sie bis zu unserem Übergang über die deutsche Grenze, Oktober 45 unsere rettenden Engel, ja so nannten wir sie recht oft! Allerdings darf ich nicht verschweigen, haben wir sehr viel entsetzliches und Schlimmes gehört und gesehen.

Nun also, so recht trauten wir uns nicht in das Haus des Neffen von Papa. Aber dann bemerkten wir, daß wir gesehen wurden und klopften an und traten ein.

Es waren eine polnische Frau und etwa 12 polnische Männer darin. Sie tranken und diskutierten laut. Papa fragte, nun, ob der Herr Grimm noch hier wohne. Sofort die Gegenfrage: Njemski? Deutsche? Nein, nein, sagte Papa, unsere Wohnung sei nur total kaputt, zerschossen, und wir waren vor einiger Zeit schon eingeladen worden, notfalls hier wohnen zu dürfen. Nun, sagte man, den Grimm gäbe es hier nicht mehr, und er wäre auch nur ein deutsches Schwein gewesen. Einer sprang auf und erklärte hämisch, man hätte ihn erhängt. Die anderen sagten aber, er solle den Mund halten. Herr Grimm wäre vor der Front geflüchtet. Das Haus gehöre nun ihnen. Ob wir Verwandte seien. Nein, sagte Papa, ich war sein Lieferant. Wir gingen zurück - wie auf Spiegeln - sehr vorsichtig und erwarteten eigentlich einen Schuß in den Rücken. Es geschah aber nichts. Trotzdem, hier ein bis zwei Stunden auf die freundlichen Soldaten warten, schien uns nicht ratsam. Aber - wohin, wir wußten es absolut nicht.

Daher gingen wir erst einmal rückwärts, hoffend, daß unsere Freunde uns überholen würden. Leider kamen sie nicht und es wurde Nacht. Ein leiser Nieselregen hatte eingesetzt. Soldaten mit LKW und Panzern hielten an und wollten uns mitnehmen. Papa wollte nicht. Warum? Trautchen und mir, uns hätte es gefallen, zumal das Gehen jetzt im Dunkeln eine fürchterliche Mühsal war. Die Panzer, Lkws und Geschütze kamen immer wieder von der Straße ab, auf den äußersten Rand und manchmal auch in den Graben. Man mußte höllisch aufpassen. Der Straßengraben war mehr als knöchelhoch voller Tauwasser, Leichen, Kadaver, Fahrzeugswracks . Ich fiel über ein totes Pferd, hatte es einfach nicht gesehen im Blendlicht der Fahrzeuge. Mama und Papa sahen sich um, als ich aufschrie, reichten mir und dann Trautchen die Hand, wir traten leicht darauf und sprangen herunter, nichts! In normalen Zeiten hätte ich sicher einen Schreikrampf gekriegt. Wir waren schon etwas abgestumpft und so müde, hungrig, durstig, und die nasse Kälte hatte uns ganz "klamm" gemacht.

An einer Waldschneise stand ein luftbereifter, mit Hausrat beladener Tafelwagen, ohne Pferde. Etwas abseits saß ein Ehepaar, dem dieser Wagen gehörte. Ein Pferd war schon vor Tagen schwer gestürzt und mußte erschossen werden. Das andere hatte man ihnen während einer kurzen Abwesenheit ausgespannt. Nun hatten sie sich ein Handgepäck geschnürt und wollten bei Tagesanbruch Richtung Deutschland pilgern. Sie waren davon nicht abzubringen. Wir wären dann schon mit den Soldaten gereist, wenn wir das vorgehabt hätten; aber was sollten wir dort? Nochmals zwischen die Fronten geraten?

Ein paar Meter weiter hatten Soldaten ein Lagerfeuer. Papa holte von dort eine Kanne mit heißem Malzkaffee. Brot hatten wir bei uns. Die Soldaten durften uns leider nicht zu sich ans Feuer nehmen. Schade. Wir nahmen eine Plane vom Wagen und legten unsere Decken darauf. Es fiel ein leichter Schneeregen, und Mama legte mich und Trautchen deshalb mit Kopf und Oberkörper unter den Wagen. Auf der Straße ratterten die schweren Fahrzeuge pausenlos weiter. Gegen Morgen erwachte Mama plötzlich nach einem schlimmen Traum, sie sprang hoch und riß mich und Trautchen in dem Augenblick unter dem Wagen hervor, als ein weit außen fahrendes Fahrzeug der Deichsel einen Stoß gab und der schwere Wagen rückwärts rollte. Nun war auch noch das Gelände zum Wald hin leicht abschüssig - der schwer beladene Wagen hätte uns im nächsten Augenblick zerteilt.

...

7 Jahre später in Frankfurt/Oder erwachte meine Mutter ebenfalls nach einem furchtbaren Traum, riß mich und Trautchen mit letzter Kraft zum Fenster, öffnete dies - und rettete uns dadurch das Leben. Vermutlich durch unsachgemäße Feuerung (wen wundert es) wären wir beinahe einer Kohlenmonoxid - Vergiftung erlegen gewesen. Immerhin waren wir schon ohnmächtig.

...

Nun, für uns war die Nacht vorbei. Der Morgen graute auch schon. Wir froren unsagbar, räumten zusammen und gingen gleich los; denn Bewegung war jetzt wichtig. Etwa gegen 10 Uhr waren wir in Neustadt. Die Sonne brach durch die Wolken und erwärmte uns ein wenig. Hier nahmen russische Posten Papa fest und brachten ihn zur Kommandantur. Mama, Trautchen und ich, wir trabten mit. Was hätten wir sonst auch tun sollen. Dort merkte man aber wohl, daß Papa ein todkranker Mann war, und weder Soldat noch Faschist. Es war auch - wie schon so oft - ein Segen, daß Papa russisch sprach.

Kurz, man ließ uns gehen. Papa bat um ein Dokument, falls wir wieder in eine Militärkontrolle gerieten. Njet, nix Dokument, so etwas wäre nun nicht mehr nötig. Na, wir pilgerten weiter, immer der Straße nach. Überall waren schreckliche Verwüstungen und - Tote, Tote! Tote deutsche Soldaten, Kinder Opas, Frauen...

Alles war so grauenvoll. Und trotzdem kam jetzt der Hunger nach all` den Aufregungen der letzten Nacht! Nein, der letzten drei Nächte! - Und, was schlimmer als der Hunger war: Durst!!! Im späteren Leben mußte ich stets im Wintersport an der Schneeluft an diesen Durst denken.

Mama hatte noch ein wenig Brot und Honig in der Tasche. Aber trotz des Hungers, essen ging nicht. Durst! Es quälte uns schrecklich. Trautchen weinte sehr und wollte nicht mehr laufen. Papa hatte keine Medikamente gegen das Asthma mehr und schien zu ersticken. Wir kamen in einen Wald. Es half etwas, jetzt um die Mittagszeit. In der Nähe, über einen etwa 50 m langen Feldweg, war ein Gehöft. Dort rührte sich nichts. Ich hatte nichts gesagt und war im Grunde sehr schüchtern und ruhig, konnte aber unter zwingenden Umständen ganz schön - ja, beinahe rabiat werden. Ich nahm einfach das Töpfchen aus Mamas Tasche und ging auf das Gehöft zu. Ich hatte bestimmt mehr Angst, als die anderen. Sie blieben in der Deckung des Waldes. Zum Glück hatte das Gehöft keinen Hund. Aber ich kleines Mädchen spürte die Blicke aus den Fenstern. Vorsichtig trat ich in den Flur, öffnete die nächste Tür und sagte: "szen dobre, Pani, prosche Wodda." Russische Soldaten und polnische Zivilisten starrten mich böse an und übersahen mein bittend hingereichtes Töpfchen.

Ich weiß nicht, wie lange es war, daß sie so starrten und ich so stand. Als ich begriff, sie geben mir nichts, drehte ich mich traurig um und ging langsam zurück, ständig gewärtig, eine Kugel in den Rücken zu bekommen. Mama winkte unter den Bäumen, ich solle weiter in den Wald hineinkommen. Als wir weitergingen, sahen wir 2 Tote liegen. Eine junge Frau, üppig, blond etwa 35 Jahre und ein Junge, schmal etwa 16, 17 Jahre. Beider erschossen. Wer hatte wen verteidigen wollen und mußte mit sterben? Die Antwort sahen wir bald. Etwas abseits im Farn lagen die Höschen der Toten. Also, Vergewaltigung. Wir gingen weiter, immer weiter. Der Durst quälte uns; aber der Vorfrühling im Wald erleichterte diese Qual etwas. Weiter hinten im Wald fielen vereinzelt Schüsse, was unsere Gangart doch etwas beschleunigte.

Am späten Nachmittag kamen wir aus dem Wald heraus. Die Straße, kaum befahren, querte einen Bach. Neben dem Bach lag ein toter Schimmel. Aus seinem Maul floß blutiger Schaum - in den Bach. Ich nahm das Töpfchen, ging etwas zurück, schöpfte Wasser und trank. Die anderen schüttelten sich.

Wir gingen die Straße entlang. Es wurde Abend. Wir sahen ein Dorf. Es war Robberkau. Wir waren im Kreis gelaufen. Also gingen wir wieder zu Frau Plotka, was ich nie begreifen konnte, Ich hätte alles, aber nicht das getan. Frau Plotka war auch erschrocken und verärgert. Sie sagte, hier könnten wir keinesfalls bleiben. In der Nacht habe man 3 deutsche Frauen und 2 Kinder aus dem Keller des ehemaligen Bauernführers herausgeholt und erschossen. Wir konnten den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung natürlich nicht nachprüfen. Na, Frau Plotka gab uns einen Jungen mit, der uns zu dem abgelegenen Bauernhof im Walde zu Frau Lesnerka brachte. Dort seien schon Deutsche und wir würden dort kaum von Russen belästigt werden.

Es waren gut 2 km bis dorthin. Frau Lesnerka sah aus wie eine Hexe aus dem Bilderbuch, war aber deutschfreundlich. Ihr Mann kämpfte mit den Deutschen, hatte sich aber seit Jahren nicht gemeldet. Frau Lesnerka war überzeugt, er hätte sie längst verlassen und vergessen. Sie hatte 2 wirklich hübsche aber sehr schlecht gekleidete Söhne von 14 und 16 Jahren. In dem schon recht verfallenen Haus bewohnte sie eins der zwei noch bewohnbaren Zimmer mit zwei verwandten Mädchen, die sich hier offenbar relativ sicher fühlten. In dem anderen Zimmer schliefen die Söhne in zwei Betten. Zwischen diesen Betten auf einer Strohschütte lag die Familie Hennig, ehemalige Gutsbesitzer aus Ostpreußen. Den Mann hätten "die Russen" mitgenommen, er war NSDAP-Mitglied. Den 15jährigen Sohn auch. Diesen hatten sie jedoch zurückschickt. Frau Hennig hatte noch 2 Mädchen in unserem Alter und einen Zweijährigen, den sie immer auf dem Schoß hielt. Sie war eine sehr unschöne große, fette Frau und betete andauernd den Rosenkranz. Dann war da noch ein Gutsbesitzer aus Ostpreußen. Ein alleinstehender großer, sehr gepflegter, imposanter Glatzkopf, der selbst Frau Hennig sehr von oben herab behandelte. Es hieß, er sei mit 5 Pferden angekommen, bewohne eine kleine Kammer und habe mit der Lesnerka ein Liebesverhältnis, was aber nicht zu glauben war.

Wir 4 bekamen jedenfalls einen Platz im Zimmer der Jungen in der Ofenecke, die wohl zu normalen Zeiten die Wohnecke gewesen sein mag. In dieser Ecke durften wir auch kein Stroh hintun, sondern nur zur Schlafenszeit unsere Wolldecken ausbreiten und uns drauflegen. Früh räumten wir unsere "Schlafstätte" wieder zusammen und durften tagsüber auf der Bank neben dem Lehmofen sitzen. In der Ecke auf der Bank stand ein Zuckersack darunter ein Sack mit Weizenmehl.

Der Ofen wurde vom Nebenzimmer aus geheizt und war immer schön lauwarm. Mama saß nie am Ofen. Sie hatte sich mit großen Schürzen, großem Kopftuch und Holzpantoffeln schrecklich kostümiert und das Gesicht mit Ruß bestrichen; so werkte sie von früh bis spät in Küche, Schuppen und auf dem Boden herum mit der Lesnerka und deren Nichten. Papa saß fast ausschließlich auf der Ofenbank. Ich saß oft neben ihm und spürte seine Gedanken oder träumte. Er war nur noch Haut und Knochen, und ihm fiel bestimmt das Schlafen nur auf dem Fußboden am allerschwersten. Trautchen hüpfte dann wohl im Hof und Stall herum. Sehr oft gingen wir 4 Mädchen aber gemeinsam in den Wald. Alles grünte. Es war ein wunderschöner Laubwald und es war Frühling. Manchmal gingen wir auch den Weg zum Brunnen herunter. Der gab nur noch wenig Wasser. Wir mußten deshalb auch mit Wasser äußerst sparsam umgehen, das heißt, wir durften einmal täglich früh eine kleine Schüssel voll Wasser zum Gesichtwaschen für 4 Personen "vergeuden". Familie Hennig mit 5 Gesichtern ebenfalls eine Schüssel. Die Polen hielten es für überflüssig, das wenige Trinkwasser täglich mit Waschen zu verschwenden. Der stattliche Herr hingegen, der eine Liebe mit der Lesnerka haben sollte, bekam täglich ganz für sich allein eine große Schüssel mit Wasser. Er stellte sie mit einem Schemel auf den Hof und wusch sich dort, genüßlich prustend und schnaufend.

Also, die Frau Hennig saß tagaus, tagein auf einem Stuhl mitten im Zimmer mit dem Kleinen auf dem Schoß und betete ihren Rosenkranz. Die Soldaten kamen nicht nur nachts, nein - auch vor- und nachmittags und am Abend. Sie kamen meist zu zweit oder zu dritt mit umgehängter Schpakin - MPi und sagten: "Komm` Frau 5 Minjut rabotti." Dann stand die Frau Hennig auf, setzte den Kleinen auf die Schütte Stroh und ging mit.

Nach kurzer Zeit kam sie wieder, setzte sich wieder auf den Stuhl und betete weiter. Da sie wohl nie gelernt hatte zu arbeiten, übernahm sie, wie es schien, mit stoischem Gleichmut dieses furchtbare Martyrium, auch mit für die Frauen, die von früh bis spät arbeiteten. Aber immer konnte sie nicht alles abfangen. Manchmal sahen sie Frau Hennig nur als Ouvertüre an und zerrten gewaltsam an den Polenfrauen herum. Mama radebrechte "im Handumdrehen" so 20, 30 polnische Vokabeln - oder was sie so für polnisch hielt. Jedenfalls setzten sich Mama und Lesnerka, aber auch die beiden Nichten sehr zur Wehr mit Feuerhaken, Besen, Mistgabel und Spaten sah ich sie sich wehren. Aber diesem unerschrockenen Mut krönte nicht immer der Erfolg.

Es passierte auch, daß die Soldaten zur Schußwaffe griffen - die Frauen schlugen allerdings auch böse zu -. Bei Schießereien, waren wir Kinder belehrt, sollten wir unauffällig in die Senke zum Brunnen laufen und uns dort verstecken. Diese Senke war vom Weg und Gehöft aus nicht zu erkennen. Nun, die Soldaten waren gefährlich angetrunken und arg geprügelt worden, uns sie schossen - zum Glück erst einmal vorbei. Trautchen rannte zu Mama, umklammerte diese und schrie. Mama gelang es, sich mit Trautchen hinter den Ställen in ein "Häuschen" zu retten. Hatten die es nicht bemerkt, oder dachten sie, Mama wollte bloß das Kind wegbringen?? Ich rannte mit Steffi Hennig daraufhin zum Brunnen. Aber die Soldaten glaubten nun, wir holten Hilfe beim Kommandanten, vor dem hatten sie mächtige Angst, auch der Ruf Syphilis oder Typhus konnte sie oft so schrecken. Sie schossen hinter uns her, die Kugeln pfiffen uns gefährlich um die Ohren, also entschlossen wir uns, umzukehren. Na, die schrien uns an: " tu Kommandant"...!

Njet Kommandant, beteuerte ich. Sie rüttelten uns arg bei den Schultern und schimpften auf russisch. Die Polinnen warfen sich dazwischen. Sie verstanden wohl, was die schimpften und dachten vielleicht, lieber dann Vergewaltigung als Kindermord. Ich kann das nur vermuten. Jedenfalls schickten sie uns ins Haus und sagten: auf die Bank setzen, nicht verstecken. Für die Polen dort galten wir als Katholiken. Papa saß, wie immer, auf der Ofenbank. Wir setzten uns dazu. Die Frauen taten lustig, sie kamen hereingetanzt; aber die Soldaten waren noch wütend. Sie stachen in die Federbetten der Jungen und auch unter die Betten, dann unter die Ofenbank in den Mehlsack und hinten in den Zuckersack. Der Zucker rieselte heraus, aber das Loch war sehr klein, so daß Lesnerka es nicht merkte. Trautchen und ich, wir konnten noch lange Zucker naschen.

Nebenan randalierten sie weiter. Das Ofenrohr polterte zu Boden. Stühle fielen um, Glas fiel herunter und zerbrach. Schließlich klirrten Flaschen und Gläser und dann wurde es still. Nach einer Weile zogen die 3 Soldaten ab und Lesnerka sagte, ich könne jetzt Mama und Trautchen holen. Sie hatte Mama geraten, sich mit dem Kind dort zu verstecken, wohl weil Mama noch zu wenig polnisch konnte.

Aber, was war vorhin geschehen? Hatten die Frauen sich für uns geopfert, oder war es ihnen gelungen, die völlig betrunken zu machen? Mama konnte dies später auch nicht beantworten. Nachts kamen wieder 3 Soldaten. Sie "begnügten" sich mit Frau Hennig und taten, was sie wollten, an Ort und Stelle zwischen weinenden Kindern.

Mama hatte sich zum Fürchten zurechtgestutzt und sich auf mich gelegt. Damals konnte ich vieles nicht begreifen, auch nicht, warum Mama das tat. Ich war doch ein Kind und fühlte mich als solches tabu gegen derartige Gemeinheiten. Ich begriff und begreife nicht, wieso versteckten die Frauen sich nicht rechtzeitig, zumal der Hund ja beizeiten kläffte. Mama sagte später auf mein Befragen, es hätte dort keinen Sinn gehabt, sich zu verstecken. Es hatte sich wohl herumgesprochen, wieviel Frauen schwören können - und Frau Hennig war nun mal überzeugt, daß Gott sie zu Märtyrerin auserwählt hatte.

Eines Tages brachte ein Pole einige Pferde auf den Waldhof. Eine Fuchsstute befreite sich und lief wiehernd auf Mama zu. Es war unsere Lotte. Sie hatte Mama trotz der Vermummung sofort erkannt. Frau Lesnerka versprach, sie für uns zu behalten. Von diesem Versprechen war einige Tage später keine Rede mehr.

Die Soldaten zogen weiter und die folgenden machten nicht Station. Die Polen hatten nun "freies Handeln". Sie glaubten auch nicht mehr so recht an eine eventuelle Rückkehr der Deutschen, was sie anfangs noch einkalkuliert hatten und sich den Deutschen gegenüber entsprechend verhielten.

Nun sagte Lesnerka uns ganz unfreundlich, wir müßten hier fort, sie hätte unseretwegen großen Ärger mit ihren Landsleuten aus dem Dorf. Kein Zureden half. Gepäck hatten wir fast keines mehr. Mama hatte unsere Wäsche und Kleider - voller Läuse -! wegwerfen müssen. Wasser gab es ja auch nicht. So hatte sie aus altem Leinzeug der Lesnerka uns dürftige Hemdchen, Höschen und Kleidchen genäht. Wir wollten den Herrn auch überzeugen mitzukommen, er fühlte sich jedoch verwunderlich stark. Er sagte, das könnte diesen Pollacken gefallen, meine Kostbarkeiten und meine herrlichen Pferde. Papa sagte, seien sie vernünftig, Herr, wir müssen jetzt unser Leben retten, das ist das Kostbarste. Er war aber nicht zu überzeugen. Schließlich sagte er, wartet die Nacht in dem leeren Chausseehaus an der Straße, etwa 5 km; wenn die Kerle abends kommen, fordere ich mein Eigentum und komme nach. Na, wir zogen ziemlich gedrückt ohne ihn los. Wir teilten seinen Optimismus keinesfalls nach diesem schlimmen Stimmungsumschwung der Polen.

Die Gegend war zauberhaft und romantisch, lieblich und weich. Die Abendsonne streichelte und tröstete uns. Der hübsche Feldweg ging angenehm leicht bergab. Überall Duft und Frühling. Wir kamen zur Straße. Sie war lebhaft befahren mit einzelnen Fahrzeugen. Dort war auch schon das Chausseehaus und es war nach genauerer Untersuchung wirklich nicht bewohnt. Nur, daß Soldaten hier öfter genächtigt hatten, sah man. Frau Hennig hatte ihren Schmalztopf und ein Kommißbrot in ihrer großen Tasche mitgebracht; sie versammelte ihre Kinder in dem einen Zimmer mit Federbetten und begann zu essen.

Mama und Papa machten Feuer und darauf Wasser heiß. Mama hatte saubere Wäsche, auch etwas Waschpulver und Seife gefunden. Sie wusch und schrubbte und werkte, es war ihr sichtbar eine Wonne. Der 15jährige von Frau Hennig hatte Papa seine Hilfe angeboten, und es war erstaunlich, unser todkranker Papa lebte richtig auf. Er zerkleinerte Holz und feuerte; denn Wärme schien ihm vor allem wichtig. Mama buk kleine Kuchen aus Mehl und Wasser auf der gesäuberten Herdplatte. Im Mehl waren viele kleine Nägel, daß mußte zuerst gesiebt werden.

Die Schweine des Hofes waren alle geschlachtet, nur faulende Reste lagen herum und einige kleine Ferkel schrien vor Hunger. Papa warf ihnen die faulenden geschrumpften Kartoffeln und etwas Mehl in ihre Krippe. Eins schlachtete er mit Hilfe des großen Jungen. Wir fanden auch Salz, sonst aber nichts zum Würzen. Gekocht schmeckte das Fleisch wirklich nicht, aber gebraten. Trautchen und ich, wir sollten die trockene Wäsche, die gebackenen Kuchen und sonst eben alles bewachen. Unsere Haare waren noch vom Waschen naß. Papa, Mama und schließlich der große Junge wollten noch einmal zurück und versuchen, den Herr S. herzuholen. Sie machten sich Sorgen um ihn, die mit einbrechender Nacht immer größer wurden.

Wir hatten eben ein Zimmer mit Betten, die noch vollkommen sauber aussahen, belegt. Papa wäre viel lieber schlafen gegangen, mußte aber mitgehen, schon als Dolmetscher.

Wir Mädchen guckten noch in Stall und Garten herum. Uns hätte es hier gefallen können. Versorgten dann die Wäsche und das Gepäck in unser Zimmer und legten uns schlafen. Die Türen gingen alles nicht zum Schließen. Zum Glück kam niemand. Die Fahrzeuge fuhren vorbei und die Dörfer waren weit entfernt. Als der Morgen graute, weckten uns Mama und Papa. Sie waren schon reisefertig und hatten gar nicht geschlafen. Wir brachen rasch auf. Als wir schon weit weg waren, erzählten sie, daß sie hatten zusehen müssen, wie einige junge Polen Herrn S. totschlugen im Holzschuppen der Lesnerka. Sie hatten sich in ihrer Angst so lange im Gebüsch Versteckt gehalten, bis die Polen zurück ins Dorf gingen.

Wir kamen durch ein großes Dorf, da hielt uns polnische Miliz an und durchsuchte unsere ärmliche Habe. Zum Glück fanden sie Mamas und Frau Hennigs Rosenkränze (Mama hatte einen von Frau Miotka bekommen) und sagten, ihr habt Glück, daß ihr Katholiken seid. Bei Lesnerka hatten wir alle den Rosenkranz beten müssen, polnisch - und wir konnten es damals auch, wie auch den Gruß: gelobt sei Jesus Christus - in Ewigkeit, amen!

Als wir aus dem Dorf heraus waren, stand ein Stück des Weges eine alte Frau mit einem völlig überladenen Handwagen. Sie fragte, ob sie sich uns anschließen dürfe und ihr jemand helfen könnte. Hennigs warfen einen Sack mit nutzlosem Gerümpel vom Wagen, legten ihr Gepäck und dem Kleinen obenauf uns zogen und schoben mit der alten Frau den Wagen. Ein Stück weiter am Waldrand saß ein Mann in Häftlingskleidung. Er kam ebenfalls mit. Wir die Bremer Stadtmusikanten, ja. Damals kam keinem der Gedanke. Es war die Zeit der Heimat- und Obdachlosen.

Wir kamen wieder durch einen Wald mit stinkenden Kadavern, ausgebrannten Autos, Tanks, umgestürzten oder auch bloß stehengelassenen Flüchtlingswagen. Trautchen trabte - wie üblich - als letzte hinterher und sammelte sich aus einer umgestürzten Kasse viele schöne Geldscheine und noch ein Mutterkreuz in Gold.

Uns saß die Angst im Nacken, und wir hatten einen sehr beschleunigten Schritt, obwohl der herrliche Frühlingstag mehr zum Spazierengehen verlockte. Bei einer kurzen Rast zeigte Trautchen ihren Fund. Mama erschrak tüchtig. Der Norbert Hennig hatte auch Geld und ähnliches mitgenommen, nur mehr. Langsam beruhigten wir uns. Mama grub das Mutterkreuz auf dem Feld ein, Norbert das Eiserne Kreuz. Das Geld steckte Mama, auch Frau Hennig, nach vielem und wenn und aber schließlich ein; denn immerhin war uns unser gesamtes Bargeld weggenommen worden, und dieses gehörte offenbar niemanden mehr. Die Moral in solchen Zeiten konnte man wohl nicht mit der Moral normaler Zeiten vergleichen.

Wir kamen durch eine kleine Stadt. Auf der Straße lag ein toter deutscher Soldat und etwas weiter ein zweiter, ohne Schuhwerk. Rückenschuß. Beide lagen auf dem Bauch. Einer hatte das Gesicht zur Seite gelegt. Jung, sehr jung! Am Ende der Straße war das Rathaus. Davon stand polnische Miliz, ebenfalls sehr jung. Papa sprach gut russisch und polnisch. Er fragte, ob wir die Toten begraben dürften. Sie lagen schon einige Tage, das sah man. Nein, wurde ihm geantwortet, die hätten es verdient dort so zu liegen, und wir sollten mal rasch machen, daß wir weiterkämen und uns nicht um die Toten bekümmern. Als wir aus der Stadt herauskamen, schien die Abendsonne. Glocken läuteten, ach ja, wir wußten es schon am Morgen, heute war Sonntag. Wir waren vor Tag aufgebrochen. Im Eilmarsch mit wenig Rast hatten wir bestimmt an die 40 km hinter uns gebracht und schauten uns nun hier am Waldrand nach einer Herberge für die Nacht um.

Dort, nicht weit, standen ganz idyllisch 2 Zollhäuser. Offenbar war hier früher die Grenze zwischen Deutschland und Polen gewesen. Ein kleiner Junge kam den Weg entlang. Sind hier Russen, fragte Frau Hennig ängstlich. Kaum, sagte der Dreikäsehoch, aber gestern haben sie eine 70jährige geschnappt, die hat mächtig gequietscht. Frau Hennig wollte lieber weiter. Ringsherum nur Wald. Das eine Haus war mit Flüchtlingen vollgestopft, erzählte uns der kleine Naseweis, im anderen könnten wir nächtigen, dort wohne nur ein ewig zeterndes Ehepaar; aber eine Nacht könnten wir das schon aushalten, meinte er.

Frau Piatrowski war eine ganz umgängliche Frau. Er war im gleichen Maße innerlich und äußerlich ganz außerordentlich häßlich und böse, da hatte der Kleine wohl recht gehabt. Sie schienen aber erfreut, Gesellschaft zu bekommen. Von ihm tönte lautstark von Zeit zu Zeit sein Schlachtruf: Tilla koch, koch! Dieser Ruf sollte uns noch lange tönen. Wir säuberten rasch 2 Räume, kochten Malzkaffee mit Herrn Pias Reisig und mußten danach in den Wald, neues zu holen, um morgen früh noch einmal Kaffee kochen zu können. Piatrowskis hatten uns sofort in ihr Herz geschlossen und - wollten morgen mit uns ziehen! Wir machten süßsaure Gesichter, aber es half nichts, sie wollten mit uns. Jetzt hieß es aber Reisig holen. Die alte Frau und Hennigs sollten hierbleiben, die anderen alle in den Wald. Aber Frau Hennig hatte Angst hierzubleiben. Nein, sie wollte mit. Gut, dann bleiben die Kinder und die alte Frau hier. Der Häftling war mit dem Jungen ins 2. Haus gegangen, um Neuigkeiten zu erfahren.

Jedenfalls gingen Mama, Papa, Pias und Frau Hennig in den Wald. Beim Reisigsuchen entfernte man sich von einander. Man fand schließlich Pias, aber wo war Frau Hennig? Man suchte, man rief, leise. Es war schon dunkel. Als man schon aufgeben wollte, kam sie, mit dem Höschen in der Hand, wie sie zu tun pflegte, wenn ihr Schicksal sie wieder ereilt hatte. Sie weinte sehr und alle bedauerten diese arme Frau. Am nächsten Morgen brachen wir spät auf. Wir waren alle sehr müde und erschöpft. Allen fehlte der Elan, außer Pias. Sie waren so froh, uns gefunden zu haben, sie würden nun immer mit uns zusammenbleiben und die Kinder mit beschützen, was ja in diesen Zeiten bloß gut wäre, na ja. Es war beinahe Mittag, als wir aufbrachen. Wir kamen nur langsam vorwärts. Die alte Frau entschloß sich, noch mehr nutzlose Last vom Wagen zu werfen. Alle waren unendlich müde. Der Tat war schön, aber es war ein kalter Wind aufgekommen. Wir wanderten nun jenseits der Grenze im frühen Hinterpommern. Jetzt wohnten auch hier Polen.

In der Ferne sahen wir einen unbeschreiblich schönen Bauernhof und etwas weiter ein idyllisches, freundliches, sauberes Dorf. Je näher wir dem Hof kamen, je prächtiger wurde er. Unsere Augen wurden immer größer, als wir darauf standen und uns umsahen. Alles war gut imstande, sauber und gepflegt. Einen solchen Anblick hatte man lange entbehrt, wir wußten das nun. Klopfen, rufen, niemand! Im Stall war Vieh, gut genährtes Vieh, keine Knochengerüste. Eine Katze strich schnurrend um unsere Füße. Der Hund an der Kette bellte uns nicht an. Als wären wir gute Freunde, wedelte er mit dem Schwanz, sein Gesicht war richtig freundlich, als er uns "begrüßte". Wir klopften an alle Türen, öffneten sie, nichts. Aber alles war sehr sauber, reich und gepflegt eingerichtet, wie etwa aus einem Katalog für Bauernhäuser um 1900, so wohnlich, richtig gemütlich. Und erst die Küche!

Also, wir waren so sehr müde, hungrig auch, aber vor allem viel zu lange heimatlos herumgeirrt und hatten zu viel Schlimmes erlebt. Nun, vielleicht hatte uns das Schicksal diesen märchenhaften Bauernhof als Äquivalent, so als Entschädigung für alles Schlimme geschenkt. Es tat gut, dies zu glauben. -

Wir heizten den Herd an, suchten nach Eßbarem und kochten etwas Warmes. Nach dem Essen räumten wir wieder alles sorgfältig auf. Dieses Haus forderte das. Als es dunkel wurde und niemand kam, legten wir uns allesamt im großen Wohnzimmer zur Ruhe. Merkwürdig war das alles schon und wir wollten in dieser Nacht doch lieber alle zusammen bleiben. Wir waren eingeschlafen. Plötzlich leuchteten uns Taschenlampen ins Gesicht. Russische Worte, Soldaten. Der Mann in der KZ-Kleidung lag gleich an der Tür. Es wäre das beste so, hatte er gemeint. Ein Soldat hielt die MPi auf ihn gerichtet. Papa erzählte, wer wir seien und daß wir sehr gerne hier bleiben möchten. Die Soldaten lachten und klopften dem KZ-Mann die Schulter. Er hätte sich mutig gezeigt. Sie gaben Papa Machorka (der russische Oberbegriff für starken Tabak). Außer den Taschenlampen hatten wir kein anderes Licht. Sie sagten uns, ja wenn hier niemand wohnt, könnt` ihr den Hof behalten. Sie gingen wieder und wir schliefen weiter.

Beim Frühstück bereiten, Mama melkte die Kuh, Frau Pia mahlte in der Kaffeemühle an der Wand Getreidekörner, denn es sollte eine Schrot - Milchsuppe geben, wir Mädchen wuschen uns an der Pumpe und hatten auch ein Stück Sackleinen zum Trockenrubbeln; da kam ein netter, gut gekleideter Bauer. Er sagte, er heiße Florian Treder und wer wir seien. Er sprach ein sauberes Deutsch. Als wir ihn alles Wissenswerte erzählte hatten, sagte er, hier könnten wir leider nicht bleiben, dies wäre sein Hof, aber im Dorf ständen genug Häuser leer. Er beschrieb uns einige. Na gut. Ganz wehmütig zogen wir hier aus.

Frau Hennig zog mit dem KZ-Mann weiter. Sie versprach sich einen Schutz von ihm. Sie hatte ihr Martyrium so überdrüssig. Arme, arme Frau. Eine Weile würde das sicher nur Illusion sein! Die alte Frau wollte als Magd bei Herrn Treder bleiben. Mama wollte uns ein leeres Haus im Dorf suchen und dort bleiben. Erstens war Papa äußerst ruhebedürftig und dann - wozu eigentlich immer weiter von zu Hause fort? Die Front hatte uns nun einmal überrollt. In Roberkau durften wir nicht bleiben, das war sicher ganz gut so, aber nun war der Krieg ja so gut wie zu Ende und dann könnten wir wieder nach Hause in unser Liebsee, dachten wir - dachten eigentlich alle, nach dem 1. Weltkrieg war es auch so gewesen. Wir wollten nun in diesem netten pommerschen Dörfchen abwarten, bis es heimwärts geht. Na, das war ein großer Trugschluß! Ja, und Pias wollten jetzt immer mit uns ziehen da half nichts.

Die 3 beschriebenen Bauernhöfe waren schon im Besitz eines polnischen Grafen Iglewski, der während der Nazizeit Igels hieß und dessen Schloß 4 km entfernt in Polen, Kantoschin, mehr Ruine als Schloß zu nennen war. Man konnte schon verstehen, daß er sich diese 3 prächtigen, stattlichen Bauernhöfe angeeignet hatte, für sich, seine Tochter uns seine Nichte; wenn man sein total verfallenes und heruntergekommenes Schloß` gesehen hatte. Als er hörte, daß dieser Teil Pommern zu Polen gehören würde, versteckte er den Grafen` und nahm seinen ehemaligen polnischen Namen wieder an. Die Besitzer dieser Höfe mußten in die Häuser ihrer früheren Landarbeiter ziehen. Nur Janka, die Nichte des Grafen`, ließ die Besitzer wohnen und für sich arbeiten, was den Dubkes recht war. Sie hofften ja ebenfalls auf eine Änderung der Dinge. Janka wohnte bei Krischa und deren Söhnchen Jurek in Krischas Haus, welches dicht neben Krischas Eltern ihrem schönen Hof stand, dem Pan Iglewski.

Uns gab er das "Insthaus", welches auf der anderen Seite seinen Hof begrenzte und wir Deutschen, Njemskis, durften für ihn arbeiten. Nun gut. Es war ja nicht für lange, dachten unsere Eltern und auf die großen Höfe durften zur Zeit ohnehin nur Polen. Also hüpfte unser "Marthakind" mit Pani Iglewska und Pani Grutka, deren Schwester, in der Küche der "Herrschaften" herum und kochte und briet mit Sahnesoßen, backte Kuchen, Pasteten, Brot mit Früchten, flammbierte Früchte, schlug oder kochte Sahne und lernte noch allerhand dazu. Pani Janka betätigte sich manchmal auch. Pani Krischa nie. Sie faulenzte oder pflegte sich. Papa wurde als Kutscher engagiert und Frau Pia für Feldarbeiten. Herr Pia lehnte es schimpfend ab sich zu betätigen. Nun, vielleicht war er tatsächlich kränker als man ihm ansah. Vorläufig war es auch mit Arbeit nicht so schlimm, zumindest was Stall und Feld betraf. Einen Lohn gab es ohnehin nicht. Man nahm sich deshalb eben, was man brauchte, dieses wurde schweigend akzeptiert. Der Krieg hatte eine schlimme Moral hervor gebracht.

Auf dem Hofe Steinhardt, ehemaliger Ortsbauernführer, der nunmehr Pani Krischa gehören sollte, hatten die ehemaligen Besitzer - oder waren es Rote - Kreuz - Sammlungen für Flüchtlinge? - nun jedenfalls lagen hier sauber gestapelt Federbetten und Wäsche. Wir hatten alles verloren, alles, alles. Zu Hause hatte Mama immer nur geschafft und gekauft. Dabei waren Betten und Wäsche stets ihr besonderes Steckenpferd. Nun war Papa schwer krank, ich fieberte plötzlich; also nahm Mama für jeden ein Federbett, ein Kissen und die nötigste Wäsche - für hier -, nach Hause nahm man das nicht mit, dort war noch genug. - Jetzt war es höchste Zeit. Mein Fieber stieg erschreckend. Ich phantasierte, der Puls jagte, weiße Flecke am Bauch, Durchfall. Typhus! Hungertyphus! Ich war bewußtlos und hatte unsinnige Fieberträume. Die schrecklichsten Erlebnisse der letzten 4 Monate mußte ich immer wieder erleben. Dann war da ein Begräbnis mit Blumen und Kränzen bei Christel. Ich muß wohl diesen Traum deutlich "reportiert" haben; denn Mama, die jede freie Stunde neben mir war, schrie und schüttelte mich. Ich bin da kurz zu mir gekommen und habe noch immer weiter erzählt. Mama beruhigte sich wieder. Sie hatte gedacht, ich sterbe jetzt. Später hat uns Christel erzählt, daß sie etwa zu dieser Zeit, also im Mai 1945 die kleine Heidi begraben hat, während sie und Mausi dem Tod gerade noch von der Schippe springen konnten. Ich war nicht immer bewußtlos. Ich hatte immer Durst und trank auch, aber wußte nicht, wo ich war und lebte stets in diesen wirren Träumen. Mama gab mir laufend Malzkaffee und weichte manchmal Brot darin ein. Sie hätte mir auch gute Milch geben können, aber mein Körper nahm sie nicht an, und Tee hatten wir keinen. Nachts kamen oft Soldaten. Kontrolle sagten sie, Frauen suchten sie. Mama hat während meines Typhus nachts neben mir gelegen. Sie erzählte später: Wen der Ruf "Typhus" nicht schreckte, den schreckte dann der Anblick dieses kranken, wie tot aussehenden, Kindes. Frau Pia wurde durch meine furchtbare Krankheit mit einbezogen. Aber sie ertrug es. Auch ihr war damals mein kleines verlöschendes Leben wichtiger, als ein ruhiger Schlaf. Als ich das erste Mal wieder endlich richtig bei Bewußtsein war, riß Mama Fenster und Türen auf. Draußen war es herrlich warm, und obwohl es Alltag war, hatte sich hier jetzt erst herumgesprochen, daß Friede sei! So, als hätte man gewartet, bis ich es auch hören kann.

Nun muß alles wieder gut werden, sagten meine Eltern hoffnungsfroh. Sogar der ewig schimpfende Herr Pia freute sich. Ich bekam eine Schnitte mit Butter und aß sie auch. Mit Milchsuppe wollte Mama noch warten. Aber sie hatte irgendwo solche Suppenwürfel gefunden. Marschsuppe stand darauf. Sie schmeckte herrlich. Ich kam langsam wieder auf die Beine.

Trautchen fand, daß es auch Zeit wurde. Sie hatte inzwischen einen schwarzweiß gefleckten Hund gehabt, den sie aber nicht behalten durfte. Das hat sie sehr verärgert. Und wunderschöne Bücher und Bilder hatte sie in leeren Häusern entdeckt, zwischen umgestürzten Schränken. Nach ein paar Tagen konnte ich schon mit und alles bewundern. Aber Herr Pia hielt sich für unseren Aufseher. Er schlich hinter uns her und siehe da, da hatten diese Kinder doch ein Album mit Aktfotos und staunten. "Zum Henker", stieß Herr Pia seinen nun schon üblichen Schlachtruf Nummer 2 aus und scheuchte uns mit seinem Stock von den so interessanten Bildern. Er war für uns ein garstiger, kaum erträglicher Zeitgenosse. Warum nur mußte es auch solche Menschen geben, grübelten wir, die meisten waren doch recht nett. - Da hatte jemand Mama ein sehr hübsches Überhandtuch mit herrlich rot gestickter Kante geschenkt. Die Schneiderin im Ort nähte daraus für mich ein sehr schönes Kleid, daß es für lange Zeit mein unübertroffenes Lieblingskleid blieb. Sie sagte aber zu Mama: "Ich habe mich oft und lange beim Anproben mit dem Kind unterhalten. Hungertyphus, ja, ja. Aber dieses Kind ist zu sensibel. Es hat all` das Erlebte nicht verkraften können, passen Sie bloß gut auf, sie ist viel zu empfindsam".

Nun, in der nächsten Zeit erst einmal nicht. Das sollte erst viel später kommen. Das Kleid war wunderschön und blieb es auch lange. Mama bekam vieles von den Leuten. Sie half den armen Menschen aber auch, wo sie konnte. So getrauten sich die früheren Besitzer nicht mehr in ihre Häuser. Es war damals alles so rasch - und so überraschend - gekommen. Sie durften nur etwas Wäsche und Garderobe mitnehmen. Mama bekam nun zögernde Aufträge, noch dieses und jenes herauszuholen, da sie überall hinein durfte. Es war dennoch kreuzgefährlich. Aber sie sah es als richtig und rechtens an. So holte sie besondere Andenken; hauptsächlich aber Bilder, Fotos, Papiere, Briefkorrespondenzen und Lebenden, Verschollenen, Gefallenen; Hauskaufverträge, die ja so nutzlos geworden waren. Die Polenmädchen kamen bei solchen "Hausdurchsuchungen" einmal unerwartet früh zurück und überraschten Mama bei solchem Tun. Zum Glück dachten sie, Mama will das für sich und lachten bloß: "Können Sie alles nehmen, wenn es Ihnen gefällt, Pani Sierka."

Trautchen und ich, wir hatten 2 Freundinnen gefunden. Anneliese und Lieschen aus dem Nebenhaus. Eigentlich war es ein Doppelhaus mit zwei Eingängen, aber über den Boden konnte man ungesehen ins andere Haus gelangen. Wenn wie Kinder tagsüber allein zu viert spielten und Soldaten kamen, konnten wir rasch über den Boden in Nachbarhaus entkommen. Hatten sie uns überrascht und schon gesehen, sollten wir nicht weglaufen. Einmal waren wir sehr erschrocken, verloren den Kopf und liefen weg. Das war schlimm ausgegangen, und falls Trautchen einmal diese Zeilen lesen sollte, werden die stundenlangen Minuten voller Angst wieder vor ihr stehen. Man kann auch nicht sagen, ob wir nun Grund zum Weglaufen hatten oder nicht. Es wurde aber täglich viel Böses berichtet. Ich möchte all das Furchtbare hier nicht aufschreiben, denn - was war Tatsache, und was Gerücht? Es wurden grausige Dinge erzählt - und es wurde gelacht, wenn jemand die Soldaten geneppt hatte - aber es gab auch - und das war leider Tatsache - immer noch Überfälle, und wenn auch selten, auch noch Tote; was Wunder, daß wir Angst hatten. - Es ist auch Tatsache geblieben, daß uns jemand etwas getan hat, bis zuletzt, nie. - Dieser Offizier, vor dem wir weggelaufen waren, wurde jedenfalls arg wütend. Wir verstanden seine Worte nicht, aber an seinen böse rollenden Augen und an seinem Gesicht merkten wir recht gut, daß wir ihn maßlos beleidigt hatten. Das war schlimm, zumal wir so auch keinen Grund gehabt hatten, wegzulaufen. Zum Glück hatte jemand Janka geholt und die log das Blaue vom Himmel, um uns halbwegs zu rechtfertigen.

Nawitz war für uns trotzdem herrlich und wir denken gerne daran zurück. Die Lust zum Leben siegt zuletzt doch beim Menschen und besonders bei Kindern. Das ist bloß gut so. Ich war mächtig sensibel und grüblerisch veranlagt, und es gab auch genug fremdes Leid, daß mich bedrückte. Menschen starben, oft an den harmlosesten Krankheiten, besonders kleine Kinder. Ihnen fehlte richtige Nahrung, oft überhaupt Nahrung. Es gab hier weder Ärzte noch Medikamente und man war völlig rechtlos, beinahe jeder Willkür ausgeliefert. Es war ja noch Kriegszustand und der sowjetische Kommandant,

der uns notfalls hätte schützen können, weit weg. Abgesehen davon, war auch nicht jeder uns Deutschen freundlich gesonnen, dazu hatte so mancher zu Arges erlebt.

Aber es war Frühling und es kam ein freundlicher, regenarmer Sommer. Wir waren im ganzen glücklich und liefen und spielten im Garten vor der Tür, in Wald und Feld herum. Manchmal hatten wir auch Aufträge, zum Beispiel die Blüten von Jesus - Wunden - Kraut zu sammeln, das wuchs meist an Wegrändern, Feldrainen oder Bahndämmen. Oder wir mußten ein bißchen im Garten jäten. Dafür bekamen wir von Pani Stoffreste, Garn, hübsche Knöpfe und nähten uns daraus Puppen, Kleidchen und Zubehör. Pani machte uns den gelben Blüten Likör. Später sammelten wir Kamille, Heidelbeeren und Pilze. In den großen Wäldern schlossen wir uns aber Erwachsenen an. Manchmal mußten wir auch Vesper aufs Feld bringen. Hin und wieder nahm Papa uns in der Kutsche mit, wenn er alleine oder mit Pan fuhr, in die anliegenden deutschen und polnischen Dörfer, oder auch nach Lauenburg, einer großen Stadt. Das machte uns Vergnügen. Einmal kamen wir in einen heftigen Gewitterregen und wurden pitschnaß, es war trotzdem herrlich. Zu solchen Fahrten mußte Mama immer gut zureden. Sehr gerne nahm er uns nicht mit und unsere Freundinnen schon gar nicht. Ich fahr nicht mit der 4. Klasse, sagte er dann. Er war ja ein kranker Mann und wir ihm bestimmt zu anstrengend.

Ich hatte in Nawitz zwei "feurige" Verehrer. Martin war 5 Jahre, hübsch, süß, blond wie ich auch später meist jüngere Freunde hatte. Der Kleine nahm es sehr ernst mein Freund zu sein. Später wollte er mich heiraten. Jetzt verjagte er eifersüchtig seinen gefährlichsten Rivalen, den 15jährigen großen, zigeunerhaft- hübschen Polenjungen Stanislaw Deike. Martin war natürlich Favorit Nummer 1 bei mir, er war ein zu liebes, reizendes Kerlchen. Nun, Stani gefiel mir eigentlich sehr, so etwas gibt man mit 12 nicht gerne zu; man ist viel zu verschämt, und ich glaube, besonders kleine Mädchen vom Lande waren so. Meinen 12. Geburtstag feierten wir im Garten am Haus mit Trautchen und unseren Freundinnen; das heißt, wir aßen Kuchen und tranken Milchkaffee mit Martin, natürlich. Stand schlich herum, faßte schließlich Mut und brachte mir wunderschöne Blumen und Äpfel. Er war auch ganz verschämt, stotterte gebrochen seine Glückwünsche und reichte mir seine Geschenke mit weit vorgestreckten Armen. Trautchen und die Mädchen mochten ihn nicht, und Martinchen wurde ganz wütend, wenn Stani sich bloß in meiner Nähe sehen ließ. Der Kleine rannte auch gleich schimpfend auf ihn los und warf im Handumdrehen Blumen und Äpfel zur Erde und zertrat die wirklich hübschen Blumen, wie es ein zorniger Ehemann nicht besser gekonnt hätte; mit Äpfeln bewarf er Stani und boxte ihn noch in den Bauch. Es war nichts zu machen, Stani mußte abziehen. Martin hätte noch einen anderen Grund gehabt, Stani zu hassen. Die Deikes saßen nämlich auf dem Hof, der Martins Eltern gehört hatte. Deike war relativ anständig zu Fitzkes. Er hatte bis 1945 dort als Knecht gearbeitet und sagte, wenn sie den Hof doch nicht behalten dürfen ist es besser, ich übernehme ihn. Er ließ die Leute auch dort wohnen.

Im Frühling und Sommer hatte man Hoffnung gehabt, es werde schon noch alles gut werden. Man hatte auch wenig Zeit zum Grübeln, man arbeitete, sorgte, schaffte wieder, vergnügte sich - irgendwie - und fiel nachts müde in einen kurzen Schlaf.

Nun war das Getreide hereingebracht und es wehte manchmal schon ein kalter Wind über die Stoppelfelder; die Abende wurden länger - und die Nächte. Man grübelte, man debattierte. Es tat sich nichts in Richtung Hoffnung, das hieß, daß alle wieder nach Hause durften. Bald kam der Winter und erste Stimmen wurden laut, ab Lauenburg führen Züge ins "Reich", nach Deutschland. Vielleicht sollte man besser dort weiter abwarten, als hier bei den Polen. Im September fuhren dann die ersten Deutschen ab, der größte Teil. Sie durften pro Kopf eine Wolldecke mitnehmen. Keine Federbetten. Verboten! Garderobe, was man anziehen konnte; etwas Wäsche, Brot und Marmelade. So hieß es. - Aber dem früheren Besitzer des Gutes - der alte Mann hatte sich ein Leben lang nur mit Büchern und Sternen beschäftigt - hatte man seine Marmeladenschnitten, mehr hatte er nicht mitgenommen, auf den Bahnsteig geworfen und zertreten. Nun, das waren so Übergriffe in solchen Zeiten voller Haß, ohne Verstand, finde ich.

Nun waren fast alle fort. Auch Fitzkes mit Martin. Die Muttis unserer Freundinnen waren noch da. Sie und auch wir wollten nun aber auch reisen. Es kamen die Herbststürme, Regen und Nachtfröste. Wir fuhren nach Roslosin wegen unserer Ausreise. Heimlich! Wir mußten und wollten unnötige Repressalien vermeiden. Die Polen hatten uns inzwischen einen Bauernhof angeboten und uns aufgefordert, die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen; dann wären wir schon lieber zurück in unsere liebe Heimat gegangen, aber nicht für den Preis. Es wurde für uns also höchste Zeit. Herr Deike war eingeweiht und wollte uns zu gegebener Zeit per Pferdewagen nach Lauenburg fahren.

Mama wollte wenigstens 2 Federbetten mitnehmen. Diese durften dann aber nur wenige Federn haben. Sie wurden im Backhaus noch einmal erhitzt und gereinigt. Statt Kopfkissen wurden für mich und Trautchen je ein Couchkissen mitgenommen. Geldscheine wurden eng gerollt und Mama nähte sie ins Korsett ein. Über die Kante meines Schulranzens wurde ein Lederstreifen genäht. Dahinein kam das Silbergeld. Frisch gebackene Brote sollten mitgenommen werden und einige Äpfel gegen den Durst, weiter ein Töpfchen Schmalz, eine Milchkanne und ein Kochgeschirr mit Malzkaffee. Na, und ein Marmeladenglas voll Tabletten. Mama hat sie von einem Soldaten bekommen, hielt sie für Aspirin und hat in den nächsten Jahren merkwürdige Dinge damit angerichtet. Zum Glück blieben es Lacher, denn es waren wohl doch Schlaftabletten.

Trotz aller Geheimhaltung und Vorsicht wußten die Polen am letzten Abend plötzlich doch, daß wir ausreisen - und ausreißen - wollten. Mit Einbruch der Dunkelheit gingen wir nicht mehr aus dem Haus. Wir machten auch kein Licht, sondern tappten, wenn nötig, im Dunkeln herum. Da fiel Mama ein, die Frau, zwei Häuser weiter, hatte noch für Papa

wichtige Medizin, Krefavin, besorgt. Sein Asthma - Pulver hatte er schon seit zu Hause nicht mehr. Es half nicht. Wir wußten nicht, was uns ab morgen bevorstand. Alles war ungewiß; aber die Medizin mußte her. Mama ging vorsichtig, aber ruhig aus dem Haus, um sich nicht durch Schleichen erst recht verdächtig zu machen. Da knallte ein Schuß. Es pfiff Mama scharf am Kopf vorbei. Sie erschrak furchtbar, die Knie wurden ihr ganz weich, aber sie ging ruhig weiter. Da wurde sie von 2 bewaffneten Polen angehalten. Einen kante sie vom Ansehen. Wo sie hinwolle. Medizin holen. Ob sie nicht wisse, daß Deutsche nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße dürfen. Nein, das war bis dahin keinem bekannt.

Alle Deutschen liefen den ganzen Sommer über im Dunkeln herum, wann und wo es ihnen einfiel. Die deutsche Jugend ging am Abend gemeinsam mit den Polen baden, tanzen oder spazieren. Darüber hinaus hatten die Polen uns wohl durch Papas gute Sprachkenntnisse, so halb als ihresgleichen angesehen. Diese Feindschaft war also sehr plötzlich gekommen. Mama mußte sofort zurück ins Haus. Die Erwachsenen schliefen in dieser Nacht fast gar nicht. Die Angst: "Würden wir heil aus Nawitz heraus kommen? Werden wir ohne größeren Schaden über die Grenze gelangen? Und was: erwartet uns in Deutschland? Man hatte uns erzählt, total zerstörte Städte und große Hungersnot. War das Risiko nicht zu groß? Natürlich lag die Hauptlast der Verantwortung für den todkranken Mann und die unmündigen Kinder auf unserem lieben, so starken, ach, und eigentlich auch bloß schwachen Mütterchen.

Du mußtest immer lebenstüchtig sein, Dein ganzes Leben lang - und Du warst es immer! Nun ruhe Dich in der Ewigkeit aus, mein liebes, gutes Marthakind, mein Muttchen! Du hast es Dir so schwer und so sehr verdient!

Traurig und verstohlen nahmen wir von dem Häuschen Abschied, -daß uns einen herrlichen Frühling und Sommer lang Heimat gewesen war. Herr Deike hatte uns ein gutes Frühstück bereitet.

Es war der 20. Oktober 1945. Weißer Frost lag auf den Dächern und dem Rasen. In uns war eine große Unrast. Und so fuhren wir noch bevor es richtig hell wurde von Nawitz ab.

In Lauenburg auf dem Bahnhof trafen wir dann doch noch Pan Iglewski. Er hatte Nürnbergs und Krefts hergefahren. Diese konnten ja ihre Abreise bekanntgeben, auf deren bleiben legte man keinen Wert.

Die Panj war trotz Nacht und Kälte auch mitgekommen. Man hatte eben eine Strecke des Weges gemeinsam zurückgelegt, und es war gut, nun doch noch richtig Abschied nehmen zu können.

Frau Iglewki sagte, falls es uns in Deutschland nicht gefällt, sollten wir zurückkommen. Der Pan wäre auch nicht böse, er sei nur gekränkt, und man werde bis zum Frühling trotz unseres heimlichen Ausreißens für uns einen Hof in petto halten.

Wir mußten nun durch eine Kontrolle, die das Gepäck kontrollierte, auch Geld sollte dort abgegeben werden, alles! Mama gab etwa 20 Slotti ab. Wir brauchten sie nun nicht mehr.

Dann standen wir dicht gedrängt auf dem Bahnsteig, Stunde ,im Stunde. Niemand wußte wann der Zug kam und es hieß, dies wäre dann einer der letzten nach Deutschland.

Als bereits die Abendsonne schien, kam der Zug. Es wurde ein unbeschreiblich rücksichtsloses Gedränge; dann hatten wir 4 Familien, 12 Personen, doch ein Abteil für uns. Als der Zug abfuhr, winkten einige der Heimat einen letzten Gruß, auch der Bruder von Lieschen und er sang: "Nun ade, Du mein lieb Heimatland." aus dem Zug heraus. Da fielen ein paar Schüsse und alle Köpfe waren weg vom Fenster.

Nachts; kamen wir in Stolp an und lagerten, so gut es ging, auf dem Bahnsteig, da wir aus dem Zug sofort heraus mußten. Aber da kamen auch schon die Polen. Zum größten Teil halbwüchsige Jungen, aber es waren auch Männer und Frauen dabei.

Richtige; Banden, die meisten bewaffnet. Sie schlugen und spuckten auf uns und bewarfen uns mit Steinen, Kartoffeln und bösen Schimpfwörtern. Nun, das mußte man ertragen, sie hatten schließlich 6 Jahre lang gelernt, die. Deutschen zu hassen; und es ist eine alte Regel, daß es zumeist die Unschuldigen trifft.

Jetzt aber es gab schon Verletzte und man hörte furchtbare Schreie. Von dem Wenigem, das man hatte mitnehmen dürfen, wurde auch noch der Rest requiriert. Einigen Männern und Frauen wurden die Mäntel ausgezogen. Papa mußte auch seinen schönen warmen Mantel hergeben und hatte hinfort nur noch Mütze und Anzug. Einen Mann hatte man bis auf die Unterhosen ausgeplündert, ihm aber Hut und Stock gelassen. So stolzierte nun der arme Mann, langsam den Bahnsteig auf und ab - zum Vergnügen dieser Bengel.

Unser Zug kam. Es waren Güterwagen. Aber gleich hinter der Lok war ein Personenwagen mit sowjetischen Soldaten. Diese sollten uns vor den Übergriffen der Polen schützen. Sehr schlagkräftig erledigten sie Ihre Aufgabe. Leider kamen sie oft zu spät. Trotzdem, es waren diese Soldaten die uns beschützten. Es waren damals unsere Schutzengel.

Wir fuhren die ganze Nacht bis zum nächsten Tag so gegen 10 Uhr. Der Zug hielt oft auf freier Strecke, dann fielen diese Banden uns wie die Wölfe an. Sie ließen Taschenlampen aufblitzen und drangsalierten die Menschen und raubten ihnen oft die jämmerlichen Habseligkeiten, auch Kinderwagen. Sie sollen auch Babys aus den fahrenden Zug geworfen haben. Dies wurde erzählt. Wir haben es nicht gesehen. Ich sah aber, daß man den Menschen alles nahm, sie auszog. Dann sprangen sie vom langsam fahrenden Zug. Wenn die sowjetischen Soldaten sie erwischten schossen sie hinterher oder sie verhauten sie und warfen sie aus dem Zug.

In Stettin mußten wir uns vor der Bahnhofs - Kommandantur lagern bis der Zug kam. Plötzlich wurden die große Jungen und Männer weggeholt zum reinigen des Bahnhofs, wie es hieß Papa mußte auch mit.

Da kam der Zug. Die Menschen waren verzweifelt, sie drängelten rücksichtslos und brutal. Man wollte weg hier, fort, über die Grenze. Es gab Panik. Die Bengel hatten uns böse Drohungen zu gefaucht, wenn in Nacht der Kommandant weg wäre würden Sie uns alle totschlagen und ähnlichen Drohungen waren die Menschen zu tiefst eingeschüchtert.

Mama rannte in ihrer Angst, daß Papa hierbleiben sollte, zum Kommandanten und brachte ihn wie von Sinnen an der Hand zerrend, angeschleppt. Er konnte nicht einmal ahnen, was Mama von ihm wollte und versuchte, sie zu beruhigen.

Aber da war auch schon bei dem stets lieben artigen Ruthchen ,,La Rabiata" durchgekommen. Die Leute stürmten den Zug. Mama war weg. Nun glaubte ich die Verantwortung zu haben.
Ich sah. ganz hinten zwischen den Schienen Papa. Er hatte den Zug auch einfahren gesehen und sich vorgenommen, im letzten Augenblick auf zuspringen.
Als Papa kurz die Hand hob, war mir das schon klar. Ich nahm schnell mein und .sein Gepäck und schleifte damit zum Zug und forderte Trautchen auf, mit ihrer und Mamas Tasche zu folgen. Aber Trautchen wollte lieber auf Mama warten und ich wollte uns einen Platz im Zug verschaffen Ich verlor die Geduld und haute Trautchen eine Ohrfeige und schrie sie an. Heulend kam sie nun hinterher. Ich keuchte mit 2 Taschen und dem Betten - und Deckensack voraus, über Steige und Schienen hinweg zum rettenden Zug. Papa sprang auf, als er mich fast am Zug sah. Dann rannte so plötzlich los, daß seine Bewacher - total verblüfft - nichts unternahmen. Er rannte um sein Leben. Ich hörte ihn keuchen und die Menschentraube vor dem Einstieg nahm mir wohl den letzten Verstand. Ich boxte mir völlig rücksichtslos den Weg frei und habe gerufen "macht Platz, laßt sofort meinen Vater durch". Dabei habe ich - zwar unwissend - eine schwangere Frau zur Seite gestoßen. Später schämte ich mich sehr über mich, aber es nicht bereut.

Es war wirklich blanke Verzweiflung - und notwendig. Es konnten bei weitem nicht alle, die da drängten und stießen, mit. Das sah Jeder. Aber Papa sollte nicht sterben. Und zurückbleiben wäre der sichere Tod für ihn gewesen. Die Plätze ringsherum waren alle schon belegt. Auch die von Piatrowskis. Hier hatte er sich nicht für uns verantwortlich gefühlt. Gerade hier wäre es bitter notwendig gewesen.
Krefts und Nürnbergs waren schon hier.- Wirklich gute Freunde.-

Ich räumte mir also in der Mitte Platz für mein Gepäck. Bei den später folgenden Schießereien zwischen den Polen und unseren Beschützern war der Mittelplatz wie ein Lottogewinn. Ein 2jähriges Mädchen war schwer getroffen worden. Einige Streifschüsse hatten kleinere Verletzungen angerichtet.

Mama hatte Jetzt Mühe, den Kommandanten wieder loszuwerden. Papa lag wie leblos auf dem Gepäck. Er raffte sich schließlich auf, quälte sich in die Nähe der Tür und gab dem Kommandanten eine kurze Situationsschilderung, während Mama alles versuchte, doch noch irgendwie in den Zug zu gelangen. Den ,,guten Geist", den sie gerufen hatte, wurde sie nun sehr schwer wieder los.

Ab Stettin, dachten wir, geht es nun über die Grenze. Nein, in Scheune mußten wir wiederum unseren schwer erbeuteten Platz verlassen. Hier brodelte förmlich der Haß einiger Polen gegen die Deutschen. Jemand sprach Papa an, wir täten gut daran, schnell hier weg zukommen. Er zeigte uns einen Kohlenzug. Dieser würde jetzt gleich nach Deutschland abfahren. Wir sollten gleich mit ihm kommen.

Nun, Angst und Mißtrauen war bei uns inzwischen genügend vorhanden, hier und jetzt aber nicht am Platz. Hier mußte blitzschnell gehandelt werden. Hier war, ein derartiges Gedränge und Menschengewühle, als hätte man ganz Deutschland und Polen nach Scheune auf den Bahnhof geschickt. Unterwegs sprachen auch wir Leute an, die ausgestiegen und ratlos waren, mitzukommen. Die meisten kamen mit - was hätten sie sonst auch tun sollen. Papa sprach den Lokführer sicherheitshalber auf poInisch an.

Zum Glück war er Deutscher und erlaubte allen "auf eigene Gefahr" auf den offenen, hoch auf beladenen Kohlewaggons mit zu reisen. So kamen wir endlich über die Grenze bis Angermünde. Erklettert hatten wir unsere luftigen Hochsitze bald, Trautchen mit einem verstauchten Fuß.

Aber nun galt es sich im Fahrtwind zu halten. Der Lokomotivführer hatte uns Mut gemacht; er führe nicht schnell und in knapp 3 Stunden seien wir am Ziel.
Die Fahrt war dann auch, wirklich nicht schlimm. Anders dagegen die halbe Stunde bis zur Abfahrt. Junge Polen versuchten es immer wieder, uns zu drangsalieren. Auch hier saßen im Wagen gleich hinter der Lok sowjetische Soldaten. Trotzdem gelang es einigen Polen, auf unsere Wagen zu springen und den Leuten im letzten Augenblick noch ihre geringe Habe zu nehmen. Einige beherzte Leute, darunter auch Mama, verteidigten unseren Wagen vor den Angreifern.
Dann, nach unendlich langen 30 Minuten, fuhren wir los und die Menschen sangen wie schon so oft auf dieser Reise: "Nun danket alle Gott".

Es sangen alle mit, was auch der einzelne sonst vom lieben Gott so dachte. Uns jedenfalls hatte er beschützt. Abgesehen von Papas warmen Wintermantel, der ihm so sehr notwendig gewesen wäre, waren wir heil davon gekommen. Die meisten Menschen hatten viel erlitten und eingebüßt, manche alles.

Der Zug fuhr tatsächlich langsam aber er fuhr. Der Fahrtwind tat uns gut. Nach ca.2 Stunden winkte ein Mann zu uns herauf. Willkommen ihr seid schon 2km in Deutschland. Bei Vielen brachen die Freudentränen aus und alle Sangen. Die ständigen Demütigungen, die Angst, alles das war vorbei. Manch einer konnte es immer noch nicht glauben.

Nun kam nur noch der Hunger. Aber hungerten, auch wir würden es überstehen. Nun konnte es nur noch besser werden, ja - aber nach nicht so schnell.

In Angermünde werden wir mit heißem Malzkaffee empfangen und sofort in einen D - Zug nach Berlin gebracht. Als wir ankamen war es Nacht. Wir versuchten, in einem Wartesaal Platz zu bekommen. Dort war es indessen zu unruhig. Aus der Gefangenschaft zurück gekehrte Landser führten dort das große Wort. Sie krakeelten und stritten herum.

Wir suchten uns lieber für den Rest der Nacht einen Platz in der Bahnhofshalle. Aber wir sollten keine Ruhe haben. Gerade in dieser Nacht rutschte wieder ein Teil des zerbombten Daches herunter. Zum Glück lagen wir ganz in die Ecke gedrückt und wurden nicht getroffen. Aber mit Schlaf war es nun vorbei; zumal wir bei dem Nachtfrost ganz steif vor Kälte waren. Mama und Papa räumten zusammen. Trautchen und ich, wir sollten draußen tüchtig laufen, um warm zu werden. Dabei wurden wir öfter flüsternd angesprochen. Man bot uns Schokolade an, den Riegel zu 5 Mark und Weizenbrot, das Stück für 150 Mark.

Wir fühlten uns plötzlich sehr erwachsen und gingen zu unseren Eltern um ihnen unsere Erlebnisse zu berichten, besonders auch von den unübersehbaren, riesengroßen Ruinenflächen. Natürlich kannten wir Ruinen. aber nicht in derartigen Dimensionen.

Mama ging mit dem Kochgeschirr los und brachte auch richtig heißen Kaffee mit. Wir Mädchen sollten nun auf das Gepäck achten, während die Eltern und Pias auf Suche nach Essen und Unterkunft gingen Nürnbergs und Krefts reisten zu Krefts Verwandten in der Nähe von Berlin.

Es wurde Mittag. Eine Frau rief mir zu, dort hinten gäbe es heiße Suppe. Ich lief sogleich mit Geld und Kochgeschirr los, aber Trautchen, dieser "Springinsfeld", wollte nicht allein das Gepäck bewachen. Sie hatte einen kleines Holzhündchen und dieses ließ sie in der Bahnhofshalle herum hüpfen. Ich sah unsere Habe einsam, jedem Dieb ausgeliefert, liegen. Also rannte ich wieder aus der Schlange heraus zurück zu Trautchen. Es half nichts, ich mußte ihr eine Schelle verpassen. Heulend blieb sie nun beim Gepäck: "Das erzähle ich alles Mama...".

Natürlich konnte ich mich wieder hinten anstellen. Kurze Zeit später, wie sollte es auch sein, war die Kohlsuppe alle. Nun rannten wir alle übrigen in die andere Ecke der Bahnhofshalle und dort bekamen wir heiße Suppe, allerdings nur von Kohlrübenblättern. Trotzdem sie dünn war, uns schmeckte Sie.

Endlich kamen auch unsere Eltern zurück. Sie brachten uns im Milchtopf herrlich dicke Kartoffelsuppe (mit Fleisch !) und ein amerikanisches Weizenbrot vom Schwarzmarkt mit. Wir hatten auch noch etwas vom mitgenommen Brot. Es bestand zum größten Teil nur noch aus Krümeln und sollte möglichst "Eiserne Ration" bleiben.

Für die Nacht hatten Sie auch eine bessere Unterkunft gefunden. Wir fragten uns zum sogenannten "Fichte - Bunker" durch. Eigentlich sollten diese runden Bunker laut Propaganda "bombensicher" sein. Einer hatte wohl einen Volltreffer abbekommen und war total zerstört. Drei standen noch und dienten den Flüchtlingen als Nachtasyl; tagsüber mußten wir leider raus.

Mit Pias waren wir 6 Personen und bekamen in dem Bunker ein Zimmer mit 6 dreistöckigen weißen Metallbetten. Alles war sauber; sogar die Matratzen. Es roch förmlich nach Sauberkeit, dank Bohnerwachs und Lysol.

Nach fast einem Jahr, erschien es uns fast wie ein kleines Wunder - überall elektrisches Licht.

Aber der Bunker hatte auch so seine Tücken. Man mußte sich genau seine Zimmernummer einprägen, sonst fand man von der Toilette nicht mehr zurück. Es war ein richtiger Irrgarten mit vielen Nischen und alles sah gleich aus.

Auf den Toiletten mußte man lange anstehen. Durch die schlechte Ernährung, hatten die Menschen natürlich häufig Durchfall.

Ich stand mit Trautchen in besagter Toilettenschlange. Plötzlich geht eine Tür auf. Ein "Heimkehrer" steht da, mit "blaß - spitzem" Gesicht mit und heruntergelassener Hose. Verzweifelt schreit er in die Wartenden: "Wo ist mein Brot"?

Noch nach vielen Jahren, konnten wir über die eigentlich traurige Situation, herzhaft lachen. Aber wie konnte er in Zeiten nur so leichtsinnig sein und sein Brot im Toilettenvorraum ablegen.

Mama hatte ausgekundschaftet, daß vom Bahnhof Berlin - Lichtenberg in den nächsten Tagen ein Flüchtlingszug nach Mecklenburg zu den Bauern abgehen sollte. Wir hatten Mamas Bruder in Dortmund angeschrieben, aber - wen wundert es - noch keine Antwort bekommen.

Piatrowskis hatten von ihrer in Husum wohnenden Tochter Nachricht bekommen; sie waren willkommen. Der alte Pia betonte immer in seinem Dialekt:" Unser Tochter ist Dammenschneiderin".

Mit einer natürlich total überfüllten U - Bahn fahren wir zum Bahnhof Lichtenberg. Unterwegs verlor Trautchen ihr hübsches Papageien - Kissen. Frau Pia wollte es zwar aufheben (sie waren eigentlich immer hinter uns), aber der Alte, warum auch immer, verbot es ihr.

Mama war darüber sehr ärgerlich darüber. Der alte Piatrowski scherte sich nicht darum und stieß wieder einmal seinen Schlachtruf aus: "Zum Henker". Diesbezüglich hatte er seinen Namen, natürlich heimlich, weg.

Nach vielem hin und her, Gesuche, falschen Auskünften, Gedränge und Gestreite, fanden wir im übervollen Zug doch noch Platz. Nach einigen Stunden Wartezeit, fuhren wir dann auch ab in Richtung Norden, Richtung Mecklenburg.

In Stralsund hatten wir keine Einfahrt. Man rangierte uns um und wir fuhren weiter. Vor Rostock wieder keine Einfahrt. Schließlich fuhr man uns auf den Rangierbahnhof und die Lok fuhr weg. Mit ihr einige Träume von dick- flauschigen Bauernbetten und kräftigen Eintöpfen. Wir schliefen ab und zu sitzend mal im stehen.

Die Morgenkälte war unerträglich. Trotz vollgestopfter Waggons war es extrem kalt. Doch es kam die Lok und weiter ging es.

Es wurde erzählt, in Rostock herrsche schlimmer Hunger und Typhus, deshalb hätte man uns dort nicht aufgenommen. In Ribnitz -Dammgarten mußten wir aussteigen, und eine große Menschenschlange walzte sich zum Flüchtlingslager Püttnitz einem Barackenlager. vom ehemaligen Fliegerhorst der deutschen Wehrmacht. Jede Baracke war ca. 10 m lang. In der Mitte zweistöckige Strohbuchten, die nur aller 1,50 m durch Holzpfähle als Trennung markiert waren. Man lag Kopf an Kopf mit der gegenüberliegenden Reihe der Buchten.
An den Außenwänden befanden sich noch einige Spinde und Fenster. In der ganzen Baracke ein Eisenöfchen und das noch auf der anderen Seite. Die Leute auf der anderen Barackenseite waren schon länger hier und mußten unserwegen zusammenrücken. Sie betrachteten uns recht feindselig. Mama und Papa lagen neben "Henkers" - wir daneben.

Hier lernten wir Frau Heileman unsere spätere Tante Lisa kennen. Daneben lag Frau Rüger mit ihr abgöttisch geliebten Söhnchen. Beide Frauen stammten aus Warschau und zuvor reich gewesen. Jetzt arm und hilflos hingen sie an unserem, in jeder Situation lebenstüchtigem, "Marthakind". Aber auch an ihr gingen diese unsagbaren Strapazen nicht spurlos vorbei. Sie war voll ihren ehemals 150 auf 90 Pfund abgemagert.

Mama hatte, pragmatisch wie sie nun mal war einen zweiten Kanonenofen nebst Rohr organisiert. Natürlich ehrlich erhandelt. Na wer weiß, vielleicht hatte sie ihn auch ohne "Händler im Waldaufdemfensterbrettgefunden".

Diese stolze Frau, hat auch das in der schlimmen Zeit lernen müssen. Wie auch immer, das Ofenrohr wurde kurzerhand durch eine mit Pappe vernagelten Fenster gesteckt und so wurden die Temperaturen erträglicher.
Durch improvisieren und praktisches Denken, hat Mama immer wieder geschafft uns durchzubringen.

Jetzt war Schlafenszeit herangerückt. Wir rollten unser Bettzeug - bestehend aus zwei Decken, Laken und bezogen(!) Federbetten auf dem Stroh aus. Ich besaß zum Glück noch mein kleines Kissen. Das tat gut. Endlich einmal wieder richtig ausstrecken.

Um sich vor den "Neuen" abzuschirmen hatten sich die "Alten an der Kopfseite Leintücher gespannt. Im ersten Stock, d.h. in den Buchten über uns, lagen die aus Gefangenschaft zurückgekehrten Soldaten. (dieser Begriff trifft wahrscheinlich am wenigsten zu; es waren 15 - 18jährige, um ihre Jugend betrogene, durch eine nationalsozialistische Propagandawalze verblendete, große Kinder; die in diesem Krieg von heut` auf morgen zu Erwachsen gemacht wurden)
Ausgehungert und apathisch lagen diese Kerlchen, meist vollkommen verlaust in voller Bekleidung (maximal die Jacke ausgezogen), in ihren Schlafvorrichtungen.
Was sonst noch vom 1. Stock tröpfelte, daran möchte ich mich heute nicht mehr erinnern.

Zum Frühstück gab es Malzkaffee nach dem man ca. 30 min anstehen mußte. Dazu gab es Zweipfünder Kastenbrote (Kommißbrote). Ein sogenannter Stubenältester hatte die undankbare und gefährliche Aufgabe, aus jedem dieser Brote sieben gleiche Scheiben (Tagesration eine Scheibe pro Kopf) zu schneiden. Anfangs tat dies ein fremder Mann, aber dieses böse Amt wurde ihm bald abgesprochen und Papa wurde zum "Brotteiler" gewählt.

Sicherlich kann sich jeder vorstellen, daß hier auch der Liebe Gott hätte teilen können und es hätte Streit gegeben. Keiner wollte den Kanten. Um des Frieden willen teilte Papa sie mir und Trautchen zu. Da war natürlich Mama dagegen; es könne ja reihumgehen. Keiner wollte natürlich den Anfang machen. Eine kleine List half. Papa schnitt die Kanten etwas dicker und nun klappte es.

Nach dem Frühstück ging Mama mit uns in den nahegelegen Wald um Reisig zu suchen. Dort waren die Russen. Mit gemischten Gefühlen kamen wir näher. Doch die Sowjetsoldaten waren fast freundlich und wollten mit und schwatzen. Mama redete in allen Sprachen der Welt (selbst Sitting Bull oder der Kaiser von China) hätte sie verstanden Sie schaffte es, ihnen Tabak (Machorka), Streichhölzer und ein steinhartes etwas angeschimmeltes Kastenbrot abzuschwatzen.
Als die Soldaten zudringlich werden wollten, lachte Mama nur und mit einem Ast schlug sie, sehr temperamentvoll, auf des Soldaten Kehrseite ein. Diese hatten ein riesen Gaudi und lachten aus vollem Halse.
Nach diesem Spaß verabschiedeten wir uns. Die Russen sagten: "xomt morgen vieder" und "Russischer Mensch, guter Mensch", und damit hatten sie Recht. Wir trafen uns noch öfter und sie brachten immer etwas mit natürlich auch für uns Kinder.

Als der Ofen mit den nassen Reisig geheizt wurde, war die Baracke voller Rauch. Das gab Ärger. Papa und auch andere bekamen einen Hustenanfall. Unsere Mama ,,fand" schließlich trockene Bretter die sie zu Kleinholz verarbeitete und zusätzlich etwas Stroh.

Nun rauchte es nicht mehr. Papa machte der warme Ofen ganz glücklich. Marthakind hatte noch einen Schemel organisiert und dazu gestellt. Nun konnte unser kranker Papa abwechselnd liegen, sich an den Ofen setzen oder etwas an die Luft gehen. Darüber hinaus profitierten ja alle auf unserer Seite von dem Ofen Mama schaffte indessen unermüdlich weiter. Sie und viele andere Menschen gingen hamstern, betteln oder versuchten auf dem schwarzen Markt etwas zu kaufen. Als Lagerinsassen hatten wir natürlich keine Lebensmittelkarten. Um zu überleben mußten die Leute natürlich auch auf die Felder um zu stehlen was eßbar war; wie Kartoffeln, Kohlrüben, Kohlköpfe. Wurden sie erwischt kam alles in die Lagerküche, was aber nach Augenzeugen nicht immer der Fall war.

Mittels zweier Ziegelsteine und einem Stück Weißblech, das lag in Mengen herum, bastelten sich die Leute. einen Freiluft - Herd zwischen den herumstehenden Flugzeugen. Mit Reisig und hervorragend brennbarem „Fliegerglas" (Plexiglas) wurde im Kochgeschirr gekocht. Hauptgericht Pellkartoffeln oder Kohlrübensuppe.
Papa saß auch nicht nur herum. Er hatte aus einem Stück Weißblech, welches er mit einem Nagel durchlöcherte ein hervorragend funktionierendes Reibeisen hergestellt, Mama konnte damit die großen Kartoffeln reiben und zauberte damit auf der Herdplatte Kartoffelpuffer.
Auch Tante Lisa und Frau Rieger bekamen welche ab. Letztere gab aber alles nur ihrem Söhnchen.

Herrn Pia ging es über die Hutschnur als Mama auch noch an die Jungs in der oberen Buchten - Etage verteilte. „So eine Verschwendung" wetterte er. Dann ließ er seinen zweiten Schlachtruf los: „Tilla koch! Zum Henker koch!". Auch Frau Pia versuchte heimlich etwas verteilen, aber es gelang ihr fast nie, er paßte zu sehr auf.

Vor unseren Barackenfenstern standen leere Kaninchenställe. Da hinein hatte man einen Jungen gesperrt. Er war groß und kräftig und mußte sich kauern, um da hineinzupassen. Davor hin ein Schloß. Dieser Mensch schämte sich sehr, daß er fast weinte. Herr Krüger, ein alter Mann, fragte Mama, ob sie mitkäme, diesen Menschen dort herauszuholen. Natürlich, es ging noch eine weitere resolute Frau mit. Das Schloß lies sich nicht öffnen. Also schraubten sie die Verkleidung ab und befreiten den jungen Mann.

Aber da kam auch schon der Polizist und sagte, das würde böse Folgen haben. Dieser Mann sei beim Felddiebstahl erwischt worden. Er wollte den Jungen wieder einsperren. Mama stellte sich vor ihn. Sie zitterte vor Empörung, die beiden andern natürlich auch. Inzwischen waren auch schon einige Zuschauer da. Der Polizist wollte Mama beiseite ziehen. Mama schrie:" Rühren sie mich nicht an. Es ist schon schlimm genug, daß hier Menschen, Kinder vor Hunger sterben, und sie mit den Küchenfrauen dicke Quarkstullen essen und nicht einmal die Fenster verhängen."

Es war aber der Falsche, wie so oft im Leben, der so beleidigt wurde. Der Junge und die drei ,,Befreier" waren ihm nun gleichgültig geworden. Erstaunlicherweise ging er der Sache auf den Grund. Am nächsten Morgen kam er in unsere Baracke und sagte, er hätte heute Nacht diese Quarkschnitten prassende Leute erwischt und sie wären sofort abgelöst worden. Er wollte jetzt die Küche mit Frauen aus dem Lager besetzen, und Mama sei doch eine Frau, die für Recht eintrete. Aber sie wollte nicht. Ihr war es wohl auch weniger um Recht und Gesetz gegangen, sondern eher um diesen halbverhungerten jungen Menschen.
Uns kam dieser Vorfall schon zu Gute Immerhin wurde die tägliche Kohl-, Gräupchen- oder Bohnensuppe merklich besser, seit Frauen aus dem Lager kochten. Man fand jetzt doch mal ein Krümelchen Fleisch im Kochgeschirr.

Dennoch mußte die schwarze Flagge gehißt werden (wegen Thyphus) und unsere Hoffnungen, Weihnachten schon bei den Bauern zu verleben, schwanden. Die Erkrankten starben wie die Fliegen. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, das Lager heimlich zu verlassen. Das war auch einzusehen. Am meisten starben alte Männer und kleine Kinder. Warum das so war, weiß ich nicht, aber es war so.

In der sogenannten Essenbaracke, dort befand sich der Essenschalter, lagen ebenfalls dicht Menschen. Während wir nach dem Morgenkaffee oder der Mittagssuppe anstanden, fiel ein Mann aus der Schlange um, tot. Man legte ihn zu den anderen, bis die Sanitäter kamen. Dort schrie eine Frau auf. Sie hatte dem Kleinen die erstandene Suppe geben wollen, aber er war schon tot.

Die Toilettenbaracke stand dicht am Flugplatz. Wir hatten es sehr weit, dorthin zu laufen. Abends, vor dem Schlafengehen, wanderten wir stets noch einmal dorthin. Jetzt im Dunkeln, wurden die Toten aus den Baracken geholt und in Massengräbern mit Chlorschichten begraben.

Ich erspare es mir und dem Leser an dieser Stelle über noch mehr Furchtbares und Entsetzliches zu berichten; über die Gattung Mensch, über Leichenflederer und sonstige Unmenschlichkeiten.

Am 12. Dezember durften einige Barackenbewohner antreten, mit Gepäck, die anderen würden folgen. Wir kamen in leere Neubauwohnungen nach Ribnitz. Hier gefiel es uns ausgezeichnet. Vor allem waren wir dem Typhus entronnen. Es war vielleicht eine etwas gewagte, aber sehr nützliche und lebensrettende Maßnahme. Morgenkaffee und ein warmes Mittagessen wurde in einem Hinterhaus in der Altstadt verteilt.

Wir machten schöne Pläne. Wenn diese Pias uns wenigstens dieses Zimmer allein überlassen würden, sie hätten sich mit der alten Frau das Nachbarzimmer teilen können. Aber nein, sie wollten mit in unserem Zimmer sein.

Der Gasherd in der Küche konnte nicht genutzt werden. Es gab kein Gas. Aber im Kachelofen kochte Frau Pia, denn ihr Mann rief laufend: "Tilla, koch! Zum Henker, koch!"

Nachts heulte der Sturm ums Haus. Der Kachelofen war noch vom Kochen angenehm warm. Die Zwischentüren zu den zwei anderen Zimmern standen offen und es wurden Spukgeschichten erzählt. Wir fühlten uns wohl und waren zufrieden.

Es war noch eine Woche bis Weihnachten, das kam die Flüchtlingsberaterin vom Rat der Stadt und sagte, daß es mit diesen Wohnungen ein Irrtum sei. Wir sollten aber nicht traurig sein, morgen früh würde ein Sonderzug nach Rostock fahren. Von dort aus würden wir sofort auf Bauerndörfer verteilt.

Nun, das war eine bittersüße Geschichte. Immerhin, hier in diesen netten sauberen Wohnungen durften wir nun mal nicht bleiben, also freuten wir uns auf die Bauern. Papa träumte, ach, nur ein kleines Stübchen und warm, richtig warm, und wenn möglich, sich einmal satt essen!

In Rostock auf dem Bahnhof mußten wir sehr lange warten, von früh Morgens bis gegen Abend. Viele Flüchtlinge bevölkerten den Bahnsteig. Da trafen wir die vier Fräulein Tonski aus Riesenburg. Es war schön, alte Bekannte aus der Heimat zu treffen. Wir versuchten, wenn möglich zusammen zu bleiben.

Herr und Frau Pia hatten einen Zug ausgemacht, der jetzt nach Hamburg fuhr. Sie wollten mitfahren zu ihrer Tochter nach Husum und bestürmten uns, unbedingt mitzukommen. Es waren ganz stürmische Szenen. Wie Herr Pia sonst auch war, er wollte sich um keinen Preis von uns trennen. Mama war schon ganz gerührt. Aber Papa blieb glücklicherweise wieder hartnäckig. Wir waren damals wirklich froh darüber, sollten wir doch endlich Herrn Pia loswerden, und Papa wollte für ein völlig ungewisses Hamburg oder Husum sein schon beinahe sicheres Stübchen bei den Bauern nicht aufs Spiel setzen. Herr Pia kletterte noch einmal aus dem Zug. Dann winkten wir lange, denn der Abschied von Frau Pia tat weh, sie war stets lieb gewesen.

Kurz danach kam auch unser Zug. Er fuhr ab Rostock nur eine Stunde dann hielt er. Es war bereits dunkel. Die Schienen waren hier zu Ende und „die Welt mit Brettern vernagelt" schimpften die Leute. Ein kalter Nieselregen hatte eingesetzt. Die Pferdewagen vor dem Bahnhof staken tief im Schlamm. Wir wurden mit einigen anderen Familien auf einen Leiterwagen mit etwas Stroh geladen. Tante Lisa sollte auf einen anderen Wagen. Sie protestierte, sie wollte mit uns mit. „na meinetwegen" sagte Herr Dieckelmann, denn er war es, der uns damals abholte. „Nun schrien Frau Grau Frau Rüger und die alte Frau, auch sie wollten sich nicht von Mama trennen; aber nun sagte Herr Dieckelmann nein, sie kommen ganz in die Nähe und können sich ja dann oft besuchen. Er war auch müde vom langen Warten und wollte nun nach Hause.

Diese Fahrt durch den Nieselregen und Dunkelheit wollte schier kein Ende nehmen. Nach einer Stunde - uns kam es wie viele Stunden vor - fuhr der Wagen durch einen Wald. Wir wollten schon unsere Bedenken flüstern, da sah man schon die ersten Häuser - ein Dorf.
Es ging leicht bergauf, dann hielt der Wagen vor dem zweiten Haus, des damaligen Bürgermeisters Comse. Eine dreiköpfige Familie und Tante Lisa mußten nun absteigen. Die Familie kam zum Bürgermeister und Tante Lisa ins Mansardenzimmer zu Möllers (Ingos Opa).

Frau Hann mit den 6 Kindern und wir fuhren weiter. Wir bogen von der Dorfstraße ab und mußten durch ca. einen halben Meter tiefen Morast. Der Wagen blieb natürlich stecken. -Gute Nacht-

Herr Dieckelmann schlug auf die Pferde ein, er redete ihnen gut zu - und es ging weiter immer durch tiefen Morast. Da ein großes Gehöft, Hundegebell. Wir waren da.

Angekommen, wieder einmal angekommen. Daheim?
Ein alter Mann, unser guter Opa Sommerfeld stand mit seinem „Patscheimer" und einer Laterne am Hoftor und fragte uns: „Was für Landsleute seid Ihr ?"

Wie uns allen zu Mute war?! Es ging so etwas Gutes von dem alten Mann und seinen Worten aus.

 

V i e t o w

Frau Hann mit ihren 6 Kindern wurde in ein kleines Zimmer mit einer Strohschütte in der Ecke gesteckt und bekam eine Schüssel voll Weißkohl - Eintopf. Sie sagte, daß sie keine Löffel bzw. sonstiges Besteck habe. Die Bäuerin, Frau Schröder, suchte und gab ihr 4 Löffel. Morgen würde man ihr auch noch Teller und sonstige Sachen herüberbringen.

Wir wurden in die Küche an den großen Tisch geführt. Frau Schröders 4 Kinder Mariechen (3J.), Annegret (5J.) [die schliefen schon] sowie Vollrat (8J) und Hermann (10J), saßen mit uns und Frau Schröder um den Küchentisch. Es gab wunderbare Bratkartoffeln und Weißkohleintopf. Unser Appetit war riesengroß. Frau Schröder sagte, wir sollten tüchtig essen, wir wären doch bestimmt hungrig. Trautchen und ich wir aßen trotzdem nur ganz wenig. Die Müdigkeit war größer als der Hunger. Unsere Eltern aßen, gelinde gesagt, reichlich Bratkartoffeln.

Vollrath schien noch einige sich jetzt auftuende Ersatzmägen zu besitzen. Schließlich beendete seine Mutter diese "Völlerei" mit den Worten: "Vollrath, Du möchtest doch nicht mehr". Der wolle schon in starken Protest gehen. Aber der Gesichtsausdruck seiner Mutter ließ es ihm schließlich geraten sein, nichts mehr zu mögen. Vollrath und Hermann mußten jetzt ins Bett.

Die Tür ging auf und herein kam Gustav Strauch, ein gutaussehender, sympathischer Mann; offenbar aus der Stadt. Frau Schröders Augen sprachen Bände. Sie war Witwe. Sogar wir Junggemüse konnten daß nicht übersehen, da hatte es gefunkt.
Vorab an dieser Stelle - sie haben später geheiratet.

Er wusch sich Hände und Gesicht, begrüßte uns und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Wir mußten natürlich erzählen und beantworteten gern alle Fragen der Bauern denkbar für ihr Interesse und überhaupt für die gute Aufnahme.

Frau Schröder brachte uns nun mit einer Laterne auf den Boden in ein kleines Stübchen ohne Ofen - leider. Elektrisches Licht war vorhanden, aber zur Zeit bis 22 Uhr Stromsperre. Wir bekamen einige Kerzen.

In dem ca. 15 m² kleinen Stübchen gab es nach Süden 2 Fensterchen. Von außen wuchsen im Herbst Weintrauben herein. Der Ausblick war unbeschreiblich schön. Über die Koppeln mit dem alten verfallenen Backofen und den vielen Obstbäumen darin, ging der Blick weiter über Felder zu Schröders Wald hin. Der Weg dorthin war von Schleenbüschen gesäumt. Dort gab es nicht nur Elstern, näher am Gehöft wohnend weiter zu den Feldern und zum Wald hin hatten damals auch Rebhühner und andere interessante Vögel ihr Domizil.

Aber zurück ins Stübchen. Hier standen an zwei Wänden je ein altertümliches Bett mit arg durchgelegenen Matratzen, eine Kommode, ein Regal das zunächst einmal unser Küchenschrank wurde. Ein Tisch zwei Stühle und ein zum Sessel degradierter Autositz. Alles einschließlich der Betten und war klamm und feucht. Mama legte unsere Decken und Laken über die vorhandenen schweren Federbetten und wir deckten uns mit unseren mitgebrachten Federbetten zu. Trautchen und ich sowie unsere Eltern teilten sich jeweils ein Bett. Trotzdem schliefen wir prächtig

Als ich früh erwachte war ich allein im Zimmer. Frau Schröder kam vorsichtig herein mit Mariechen auf dem Arm und Annegret an der Hand. Sie fragte ob ich ausgeschlafen hätte. Ich zog mich an und ging zum frühstücken. Ich mußte, da ich wohl etwas überlang geschlafen hatte, allein essen. Alle wären schon fertig.

Dies würde nun unsere neue Heimat. Wie gut das alles tat. Plötzlich fiel mir ein heute ist der 24. Dezember; ja Heiliger Abend 1945. (vielleicht fühlte ich mich in diesem Augenblick bestätigt, daß es einen lieben Gott gab) Ich bekam einen Teller voll Milchsuppe und eine Stulle mit Pflaumenmus. Kein Gedanke mehr an Püttnitz.

Man kann sich das heute im Zeitalter von Coca - Cola und Nutella - Krems sicher kaum vorstellen.

Mama und Papa halfen Opa Sommerfeld im Stall Viehfutter vorbereiten. Schließlich kamen 2 Feiertage und Opa wollte morgen zu Fuß mit einem Handwagen nach Imkendorf losziehen um dort bei Schröders und seiner Verwandtschaft einen Eisenofen für uns zu organisieren. Das waren mindestens 20km - Respekt diesem lieben alten Mann.

Frau Schröder hatte inzwischen beschlossen, uns noch das schmale längliche aber recht freundliche Zimmerchen, ebenfalls mit Südfenster, durch welches Familie Hann gehen mußte, um in ihr Stübchen zu gelangen, und in dem ein Herd stand, zu geben. Da wir kein heizbares Zimmer hätten und oben nur schlafen könnten. Wenn sie wollen, sagte sie, können sie der Frau mit den vielen Kindern ja gestatten, mit dort zu kochen, denn sie könne nur ein paar Tage für alle mit kochen. Sie habe ohnehin das Haus mit Flüchtlingen bis unters Dach voll gestopft.

Das stimmte wirklich. Es wäre die reine Schikane, ihr nun noch mehr Flüchtlingen zu zuweisen. Wie wir später von den Dorfbewohnern erfuhren, hatte sie wohl auch damit Recht; man hatte sie wohl als größten Bauern auf dem Kieker. Es war ein ehemals sehr reich und großzügig gebauter Bauernhof. Jetzt war alles ziemlich baufällig.

Wenn ich oft laut träumte, dieses wunderschöne Bauernhaus müßte uns nun gehören - ich hätte die schönste Villa dafür hergegeben, gesetzt dem Fall, ich hätte sie gehabt -, dann sagte Opa jedes Mal: „Keene drei Jgroschen jäbe ick für den baufälligen Kasten, Mäken." Das konnte ich nicht begreifen. Immerhin bewohnte er das häßlichste „Loch" in diesem trotzdem noch schönen Bauernhaus, nämlich den früheren Kükenstall, die Wände weiß getüncht und Ziegelfußboden.

Also, Frau Schröder hatte wirklich auch ohne uns, das Haus voller Flüchtlinge. Das große Zimmer mit den Fenstern über der Glasveranda bewohnten Herr und Frau Meyer - Hübner, Gardinenfabrikant aus Hamburg. Dann war die Schwester des verstorbenen Bauern Elisabeth Sommerfeld mit Töchterchen, Schwiegervater (Opa), Schwägerin Trudchen mit deren Sohn Erich, alle hierher geflüchtet, als auch der früherer Wartegau von den Deutschen geräumt werden mußte.
Opa Sommerfeld hatte dort in Landsberg (an der Warte) eine Großgärtnerei mit großen Ländereien, LKW, Pkw, Pferde usw. besessen. Er hatte 2 Söhne gehabt. Den Willi, Liesbeths Mann, hätte man sofort weggeholt, er war NS - Ortsbauernführer.

Die Leute hätten erzählt, er wäre sofort erschossen worden, dennoch hoffte Opa, es wäre ein Irrtum und Willi doch noch am Leben. Und er hatte recht zu hoffen. „Augenzeugen" hatten auch Christel erzählt, daß wir vier tot und zerrissen in der Ostsee gelegen hätten.

Nun, Opa hatte noch einen Sohn, Erich, sein Liebling, wie er auch den kleinen Erich besonders liebt. Zuvor sei zwar Anita sein „Verzug" gewesen, aber die sei 7-jährig umgekommen. Dann gab es noch Vera, die mochte er nicht so sehr.

Also, Frau Schröder hatte alle diese Leute schon unterbringen müssen, bevor wir und Frau Hann kamen. Dazu „besuchten" die Bäuerin alle möglichen Rostocker Verwandte und Bekannte und wollten in der Landwirtschaft helfen. Natürlich war die Hilfe solcher Großstädter ohne größeren Nutzen, aber diese Menschen hatten Hunger, großen Hunger.

Das alte baufällige Haus barst langsam. Frau Schröder erlaubte uns, den Winter über, aus ihrem Schuppen Brennholz zu nehmen, im Frühling dann von den Holzmieten. Frau Hann wurde solches nicht erlaubt. Die größeren Kinder sollten in den naheliegenden Wald gehen und Reisig holen, es gäbe dort genug.
Überhaupt schien ihr diese Familie ein wahrer Greuel zu sein. So durften Hanns nicht die allgemeine Toilette benutzen, die Küche nicht betreten, usw. Frau Hanns Bitte um ein Töpfchen Milch für die Kleinen wurde strikt abgelehnt, was aber weiter nicht schlimm war. Wir bekamen täglich etwa 6 Liter Milch und gaben Hanns natürlich genug davon ab. Nun, Mama molk auch täglich 3 und oft genug 7 Kühe, wenn das Dienstmädchen Grete Möller keine Zeit hatte. Mama und Papa arbeiteten den ganzen Winter über auf dem Hof; was von der Bäuerin denn auch voll akzeptiert wurde. Sie gab uns ihrerseits Lebensmittel, so daß wir nicht hungern mußten.

Abends heizten wir also die uns übergebene hübsche kleine Wohnküche. Danach badeten wir sogar in einer Holzwanne. Hanns hatten so lange Durchgangssperre. Die Bäuerin gab Mama alte mürbe Wäsche, woraus wir neue Unterwäsche genäht bekamen; wir nähten natürlich auch schon mit. Nun war Stromsperre und wir vier wurden in die große Küche an den gemeinsamen Tisch gerufen. Es gab Pellkartoffeln und Quark. War das ein Schmaus. Papa wurde direkt unanständig, was sonst nie seine Art war, und stopfte ohne Rücksicht auf die anderen gierig die Pellkartoffeln in sich hinein. Opa sagte uns, später hätte die Bauernfamilie noch einmal heimlich im Schlafzimmer Butter, Wurst und Schinken gegessen. Na ja, das war doch auch ihr gutes Recht.

Nach dem Abendessen - mit vollem zufriedenen Bauch - gingen wir in unsere kleine Küche und heizten den Herd mit Buchenholzscheiten. Die restlichen Pellkartoffeln bekamen wir mit, um sie Hanns zu geben. Das war uns eine Freude. Hanns Ofen rauchte arg, weil das Reisig ganz naß war. Mama holte einfach noch einmal einen Arm voll Holz aus dem Schuppen, das ließ sich der Ofen besser gefallen. Wir riefen Frau Hann und die Kinder trotzdem in die Küche und Mama sagte, die Küche wollen wir immer gemeinsam benutzen. Das Zimmer war zur Zeit auch voller Rauch und eiskalt.
Wir öffneten die Herdtür und schauten in die Glut und in die kleinen tanzenden Flammen, die komische aber anheimelnde Schatten an die Wand des dunklen Raumes warfen. Wir dachten mit Schaudern an das Flüchtlingslager Püttnitz und waren von Herzen froh und dankbar für dieses sehr armselige, für uns jedoch herrliche neue Zuhause. Wir sangen Weihnachtslieder, Volkslieder und Dankeslieder an den lieben Gott.

Hanns Kinder gefiel solches Treiben ganz offensichtlich nicht. Sie fanden solches Stillsitzen und Singen am Heiligen Abend langweilig, besonders die Größeren, und die Mutti mußte sie oft zur Ordnung rufen.

Da klopfte es an die Tür. Nein, sollte wirklich der Weihnachtsmann ...? Ja! Frau Schöder brachte Trautchen und mir je ein kleines Tellerchen mit Äpfeln, Walnüssen und Pfeffernüssen. Wie freuten wir uns da. Nun war natürlich richtig Weihnachten. Die 14jährige Christel Hann weinte ob dieser Kränkung. Wir mußten den Kindern etwas abgeben. Dies sahen wir zwar irgendwie ein, aber taten es indessen nicht gerne. Die Bäuerin hatte es auch nicht wissen können, daß Hanns bei uns in der Küche waren. Hanns Stübchen wir inzwischen schön warm geworden.

Wir gingen nach oben in unser feuchtkaltes Stübchen und wären am liebsten in der warmen Küche geblieben. Oben kam Opa Sommerfeld hinter uns her und gab uns von seinen erhamsterten Vorräten ab. Er wollte dies nicht im Beisein der anderen tun. Es waren eine kleine Knackwurst, ein Stück Speck, Schmalz, ein Säckchen Zwiebeln, einige Kaffeebohnen, Tabakblätter Marke „Sommerfields starker", Gewürze, kurz lauter Herrlichkeiten.

Am 1. Weihnachtstag gab es früh zur Milchsuppe eine Scheibe Rosinenbrot. Die hoben wir für den Nachmittag auf. Zu Mittag aßen wir vier in der großen Küche gebratenes Pökelfleisch, Sauerkraut und Salzkartoffeln und noch Kompott. Christel und Fred Hann hatten im Stall geholfen und bekamen auch einen Teller mit Essen, mußten dieses jedoch stehend im Flur verzehren, um ihre kleineren Geschwister nicht traurig zu machen. Es nicht zu begreifen, warum sie nicht mit und in der Küche sitzen durften. Uns hätten sie nicht gestört. Aber, so lieb und gut die Bäuerin immer (!) zu uns war, die Hanns waren ihr eben einfach zuviel an Flüchtlingen.

Am 2. Weihnachtstag abends, es war schon dunkel, kam Opa Sommerfeld richtig mit seinem Handwagen und dem Öfchen angerattert. Ein passendes Rohr hatte er auch und der Schornstein ging ohnehin durch unser Stübchen.

Dieser bekam nun ein Loch, dahinein kam das Rohr und das Ganze wurde mit Lehm verschmiert. Das Öfchen brannte und heizte sogleich das kleine Zimmer aus, phantastisch! Wir waren ganz andächtig. Opa stimmte an und wir sangen alles mögliche und waren sehr fröhlich.

An den Abenden nach Weihnachten schnitzte Papa aus Lindenholz Pantoffelsohlen, worauf dann „noch halbwegs gutes" Oberleder früherer Schuhe genagelt wurde. Hauptsächlich aber schnitzte er Rührlöffel, Schöpflöffel und sonstiges Gerät; aus Blech machte er Reiben, Müllschippen, usw.. Aus 2 Kanistern Eimer, einen für Trinkwasser und einen für Spülwasser. Es war auch nötig, da wir uns nunmehr selbst verpflegen sollten. Die Bäuerin wies uns gleich nach den Festtagen eine kleine Bodenkammer neben unserem Stübchen zu und übergab uns dabei einen kleinen geräucherten Vorderschinken Speck, einen Tüte weißer Bohnen, eine Menge Schwarten, Majoran, Salz, Zwiebeln, 1 Kiste Kartoffeln, 4 Kastenbrote, Schmalz mit Äpfeln gebraten und einen Topf Sirup (hm), das war kaum zu glauben. Schließlich hatten wir 1945(!).
Wir waren ganz sprachlos und gerührt - bei uns war nun ganz einfach der Wohlstand ausgebrochen!
Und daß ich es nicht vergesse, noch ca. 7 Kilo Mehl. Milch bekamen wir ja täglich und Kohl, Kohlrüben oder Futtermöhren brachte Mama bei Bedarf aus der Futterküche mit. In den nächsten Tagen würde Brot gebacken, dann würden wir auch frisches bekommen, dieses sei ja schon recht hart.

Gleich im Neuen Jahr soll Mama auf das „Bürgermeisteramt" gehen, dort würden wir Lebensmittelkarten und vielleicht sogar Bezugsscheine für Kleidung etc. bekommen. Wir könnten damit per Milchwagen nach Tessin, einer 6 km entfernten Kleinstadt fahren und einkaufen. Also nein, wir sollten wieder richtige Bürger, Menschen, wie andere werden, die wir oft schon im Stillen beneidet hatten? Wahnsinn! Wasser durften wir aus der Küche holen, Holz verbrauchen, soviel wir wollten. Das taten wir denn auch ganz schön gründlich.

Wir hatten ein Jahr lang immer nur gefroren und gehungert - Nawitz ausgenommen -. Jetzt wurde uns warm, ja auch ums Herz, und man kann es sicher verstehen, wie lieb, wie sehr, sehr lieb uns unsere neue Heimat wurde, nach all` dem Schlimmen und Entsetzlichen, das wir erleben mußten.
Die Menschen auf diesem Hof und die aus dem Dorf waren im Grunde verschlossenen und ja, auch oft verbittert gegen uns Flüchtlinge, die, wie sie meinten, erzählen und erzählen, was sie alles besessen hätten, na und haben nichts mitgebracht.

Es wäre sinnlos gewesen, über diese Menschen zu rechten. Sie konnten es nicht anders wissen. Sie ahnten nicht einmal, wie sehr sie sich beglückwünschen konnten, weil sie in ihrer Heimat bleiben durften und alles behalten hatten.

Dieser grausame Krieg, der so unendlich viel Abscheulichkeiten, Grausamkeiten und furchtbare Unmenschlichkeiten für Millionen (allein 9 Mio Deutsche aus den Gebieten Ost - und Westpreussen, Schlesien und Sudetendeutschland) gebracht hatte - auch wenn jeder Betroffene ein Buch darüber schriebe, könnte all` das Schreckliche, wozu Menschen imstande sind, nicht beschrieben werden (!) - nun, er hatte dieses Dörfchen fast gänzlich verschont.
Dennoch waren einige - nicht alle - Vietower über die „Flüchtlingsplage" verärgert. Trotzdem, wir fanden schnell Kontakt und darunter auch wahrhaft gütige Menschen.

Vietow bestand seinerzeit aus überwiegend windschiefen, baufälligen Hütten und Katen. Viel Fachwerk und Strohdach. Von insgesamt einem Dutzend Häusern, das Gutshaus und die Bauernhäuser Stephan und Schröder mit eingerechnet waren zwei Drittel mit Stroh gedeckt und wackelten. Inzwischen hat das Dorf, wie viele mecklemburgische Dörfer, ein völlig anderes Gesicht, und vor allem andere Straßen.

Tante Lisa hatte in einem festen Haus ein Dachstübchen bekommen. Die Möllers waren auch wirklich nette Leute. Sie hatte sich auch recht behaglich eingerichtet und wir besuchten uns gegenseitig. Sie hatte aus ihrem früheren reichen Haus etwas Silbergeschirr, einige kostbare Decken und so bis hierher retten können; trotzdem sie bei dem Blutbad von Warschau selbiges fluchtartig verlassen mußte. Damit konnte sie sich natürlich schöner einrichten, als wir mit ein paar gehäkelten Deckchen und Läufern aus gegerbten Kaninchenfell.

Die meisten Flüchtlinge hier waren aus Pinnow. Die Güter Vietow und Pinnow hatten unter anderem dem gleichen Grafen gehört. Als die Front nahte, hatte dieser angeordnet, daß alle Gutsarbeiterfamilien aus Pinnow in Vietow aufgenommen werden sollten. So geschah es, und jetzt fühlten sie sich hier längst schon zu Hause und waren bald alle miteinander verschwägert. -

Es war erstaunlich, wie gut Papa sich erholt hatte. Der Frühling 1946 kam aber auch wunderschön und warm und gab den Menschen einen unwahrscheinlichen Auftrieb. Papa wurde angesprochen, er solle mal lieber auf das Gut arbeiten kommen. Dieses werde im Herbst verparzelliert und er könne auch ein Neusiedler mit 5 ha Land werden. So geschah es auch.

Ich war nun 12 ½ und begann mich frühzeitig zu entwickeln, das heißt körperlich. Geistig war ich nach wie vor verträumt. Ich führte mein Tagebuch, verfaßte kleine Verse, machte mit Gedanken über alle Welt und spielte mich hier auf dem Hof als kleine Erzieherin der ganzen Kinder auf; und das waren außer mir und Trautchen die 5 Hanns, denn das Kleine war stets bei der Mutter, dann noch Erich Sommerfeld, Vera mußte schon den kleinen Haushalt meistern und durfte nur selten mitspielen und die vier Schröders Kinder. Wir spielten in der Koppel „flüchten" oder Mutter, Vater, Kind, aber meist Schule. Ich las Märchen vor oder erzählte welche, oder wir sangen Kinder- und Flüchtlingslieder. Frau Schröder hatte mir einige Bücher aussortiert. Sie waren teils stark zerlesen, aber inhaltlich wertvoll und gut. Oft wanderten wir in Schröders Wald oder in den sehr großen Gutswald, suchten Blumen und sangen und tanzten. - Ach Vietow, Vietow, liebe stille verträumte Heimat!

In der langen Regenzeit spielten Trautchen und ich in der Stube, wie andere Kinder eben auch. Es gab damals wirklich hübsche, mit Liebe und Freude an der Sache, hergestellte Anziehpuppen; meist nur einseitig, aber auch zweiseitig. Das waren dünne Papierbögen, daraus konnte man die Anziehpuppen und deren Kleidung herauszuschneiden und sie der Puppe dann, ja nach Anlaß, anziehen konnte. Nun genügten uns weder die Puppen noch deren Kleider. So malten wie uns mit Buntstiften zusätzliche Puppen und entwarfen „neue Modelle". Bei mir kamen leider nur recht unzweckmäßige, aber prächtige Festkleider und Abendmäntel heraus. Immerhin wurden wir beide von Erwachsenen recht gelobt, ob unserer hi, hi Talente; wie zum Beispiel von der Mutter des Dorfschullehrers, die früher mal vom Fach und Mama den wohlgemeinten Rat gab, uns unbedingt als Modezeichnerin ausbilden zu lassen. - Na, vielleicht Trautchen, ich bestimmt nicht.

Nun, wir nahmen deren Lob auch nicht ernst, sondern nahmen es als Freundlichkeiten, die es ja wohl auch waren. Dagegen - oh, wie wunderschön, sollte es nun ernst mit der Schule werden, das heißt, mit deren Wiederbeginn. Jawohl, wir hatten nun auch einen Dorflehrer. Er war 21 Jahre, hatte vor 4 Jahren sein Notabitur gemacht und jetzt fehlte ihm der linke Arm. Sein Anzug war eine Wehrmachtsuniform. Seine Eltern hatten ein Kaufhaus besessen. Er, der einzige Sohn, hätte dieses einmal übernehmen sollen. Nun waren sie arm und heimatlos, wie wir, hierher getrieben worden; und es war ja noch ein Glück dabei, er lebte (!), wenn auch ein Arm fehlte. Wir dagegen hatten trotz aller Suchaktionen, nie etwas über meinen Bruder erfahren. Unser Lehrer, Herr Schmoldt, hatte sehr viel Ähnlichkeit mit Walter. Er hatte eine Kurzausbildung absolviert und war nun Neulehrer. Er konnte ganz herrlich Klavier spielen; vor allem aber war er mit Herz und ganzem Engagement ein Lehrer.

Ich hatte in Vietow damals den Ruf eines sehr schönen Mädchens. Das besagt natürlich nicht, daß ich das auch war. Es gab dort eben keine wirklich schönen Mädchen. Man hatte hier ganz unförmige, derbe oder auch spindeldürre Figuren und Beine, große, spitze oder knollige Nasen und oft sehr stumpfe Gesichter; was wunder also, daß ich dort der Einäugige unter den Blinden war. Dazu muß ich auch sagen, daß Trautchen mindestens genauso hübsch war, nur ein anderer Typ. So etwas kann schon ganz schön den Charakter verderben, wenn man immer und immer alle sagen hört, wie sehr hübsch man sei, wenn man soo jung ist. Man hat ja in diesem Alter noch kaum eine richtige Meinung, trotz Spiegel, auch hatte ich dort kaum Vergleichsmöglichkeiten; und es wird dann eine schlimme Eitelkeit geweckt.

Als meine Mutter mit mir und Trautchen vor Schulbeginn Herrn Schmoldt einen Besuch abstattete, starrte er mich ganz verzückt und ungläubig an und wurde sehr rot und verwirrt. So etwas merkt eine 13jährige recht gut, und wenn sie noch so verträumt ist. Man muß ja Herrn Schmoldt zugute halten, daß er kein richtig ausgebildeter Pädagoge war, 21 Jahre jung, voller Romantik und um die schönsten Jugendjahre betrogen. Mit Beginn der Schule ging das so weiter. Seine Augen strahlten mich an, wenn er uns etwas besonders Schönes vortrug oder lehrte. Sein Gesicht, seine Gesten sagten mit ganz offen: Ich hab Dich sehr lieb. Nun war ich ja im großen und ganzen ein freundliches, gutmütiges Mädchen. Warum ich aber gerade diesem anständigen, mit höchsten Idealen belasteten, liebenswerten Menschen - denn das war er (!) - gegenüber so böse reagierte, weiß ich selbst nicht. Ich verspottete ihn, machte ihn vor den anderen Kindern direkt lächerlich und benahm mich ihm gegenüber abweisend und ganz schön böse. Dabei schätzte ich ihn schon damals als Lehrer sehr. Lehrte er uns doch mit beinahe schwärmerischem Enthusiasmus die schöne Literatur.

Er liebte Storm, Eichendorff, Hölderlin, Brentano und Uhland, wie ich damals und heute; auf dem Klavier spielte er uns herrliche Volksmusik Brahms, Grieg und Schubert. Er lehrte uns die Ode an die Freude - mit der ganzen Neunten wäre er damals bei uns auf größtes Unverständnis gestoßen -, er bemühte sich sehr, in uns allen ein wenig Verständnis für gute Musik zu wecken, was ihm aber kaum gelang.

Für groß und klein, alt und jung, arm und reich war eine Festlichkeit in Vietow, aber auch im Nachbarort Niekrenz, ein großes aufregendes Ereignis. Man bedenke, Fernsehen gab es noch nicht bei uns, dazu existierten in Vietow etwa vier oder fünf Radios. Elli Laudan besaß ein Grammophon und Helga Lantow ein Akkordeon. Nun war dieser grausame Krieg endlich zu Ende und jung und alt wollte sich amüsieren. So gab es schon große Vorfreude wenn es hieß, es ist Kinderfest, Feuerwehrball, Sommernachtsball, Erntefest, usw.. Da war man natürlich erfinderisch. Den jungen Mädels und Frauen war es jetzt ihre größte Sorge - was ziehe ich an? Woraus nähe ich mir rasch was Schönes? Diese sorgen hatten wir kleinen Mädchen zwar auch (ich wurde im August 13), wichtiger war für uns aber, daß das Wetter schön blieb. Wir holten Laub aus dem Wald für Girlanden. Das Laub dazu war je nach Jahreszeit verschieden. So war es im Mai Birke, zum Kinderfest Linde oder Buche, zum Erntefest Eiche, manchmal mit etwas Fichte gemischt. Es folgte der Umzug durch das Dorf zum Festplatz, danach in den Wald und abends von dort zum Kornboden. Noch wichtiger als die Girlanden waren für uns Schulmädchen die Kränze im Haar, da waren wir unwahrscheinlich eitel - mit ländlichem Geschmack, natürlich.

Wir Vietower hatten Beziehungen zu einer berühmten, aber auch wirklich guten Kapelle „Viktor Robaschewski". Es war der Onkel von Luzi und Leo Jusiak, also mit dem Dorf verwandt.

Herr Schmoldt führte mit uns im Wald und auch abends auf dem Kornboden Spiele und Tänze auf, wobei er stets anordnete, daß ich mit ihm zu tanzen hatte; was mich aber beileibe nicht eitel machte, nein, es nahm mir einen guten Teil Freude an der Sache. Ich fand es langweilig, mit dem Lehrer zu tanzen, ich wollte lieber mit einem anderen geschmückten Mädchen bewundert werden und murrte einige Male, warum denn immer ich, es könnte doch auch reihum gehen. Abends auf dem Kornboden, dem Tanzsaal, waren alle von 3 bis 90 Jahren, mit ganz wenigen Ausnahmen zu denen auch Mama gehörte, anwesend. Rings an den Außenwänden standen Bänke, Holzklötze mit aufgelegten Brettern, in einer Ecke saß die Kapelle, von den Balken hingen Papiergirlanden, Lampions und grüne Zweige. Der Fußboden hatte arg breite Ritzen. Sand und Erde wurden reichlich an den Schuhen heraufgebracht. Direkt unter dem „Tanzsaal" am Fuße der Treppe hatte sich Fritz Schmidt, der Gastwirt des „Lindenhofs" aus Sanitz, mit seiner „fliegenden" Theke etabliert. Hatte sich Mama an solchen Festtagen mit dem Abendbrot verspätet, wir fanden daß sie es absichtlich tat, und wir kamen zum Tanz, wenn er bereits begonnen hatte, sah man deutlich, in welchen Mengen der Sand vom Tanzboden auf die Theke und auch direkt ins Bier rieselte. Immerhin, es schmeckte den Leuten prächtig; ganz besonders in den kommenden Jahren, als es dann zum Bier noch Bockwurst gab, die in Hauptsache Bauer Stephan soll geliefert haben.

So gegen 21 Uhr gab es in der Regel einen Kindertanz, dann mußten die Kinder gehen, zur Freude der jungen Leute, denn wir sprangen ihnen bis dahin laufend um die Beide herum. Beim Kindertanz tanzte dann der Bürgermeister und andere Erwachsene mit uns. Herr Schmoldt tanzte nie mit jungen Mädchen oder Frauen, sondern stand hochmütig an der Treppe und sah dem Treiben kritisch zu. Beim Kindertanz wollte er dann mitmachen und zwar mit mir. Zuletzt weigerte ich mich und reihte mich - bockig - ganz hinten mit einem Mädchen ein.

Überhaupt, je mehr er mich den anderen Kindern vorzog, je vergnatzter wurde ich gegen ihn. Wie gesagt, als Lehrer wußte ich ihn damals schon hoch zu schätzen. Er hat uns fast ohne Lehrmittel so viel Schönes und Wissenswertes gelehrt. Dazu mußte er in einem Raum zur gleichen Zeit die 1. Bis 8. Klasse lehren. Das ging einfach nicht. Im Grunde hatte er uns in drei Teile geteilt. Die erste und zweite zusammen, die dritte bis fünfte und die sechste bis achte, wobei zu meiner Zeit nur sehr wenige den Abschluß der 8. Klasse erreichten, obwohl dort der Stoff der normalerweise 5. Geboten wurde. Es ging wirklich nicht anders. Uns Großen teilte er oft sogenannte Flatterhefte aus, Sie enthielten meist Märchen, Novellen, Geschichten, auch Lyrik war dabei. Na, ganz mein Geschmack. Herr Schmoldt hat uns besonderes Wissen auf den Gebieten Literatur, Musik, Biologie (bestand hauptsächlich im Anschauungsunterricht, war aber sehr wirkungsvoll und nachhaltig), und im Zeichnen vermittelt. Trotzdem, zeichnen habe ich nie gekonnt. Ich zeichnete immer mit soo viel Liebe, wie Ungeschick, meine guten Noten in diesem Fach waren jedenfalls nicht zu recht, wie auch in Sport und Physik.

Nach Vielen Jahren, als Herr Schmoldt schon ein pädagogischer Experte war, sprach er mal über jene Jahre, und schätzte ein, mit welch großem Enthusiasmus und welch schlechten pädagogischem Können er sich die ersten Jahre unter unbeschreiblichen Bedingungen zu einem hochgeschätzten Pädagogen hocharbeiten und mühen mußte.

Ja, so kämpfte er damals auch - zähe aber ohne jeden Erfolg - gegen die Unsitte, daß Schulkinder zu den Dorffestlichkeiten mit auf den Tanzboden durften. Er machte Kontrollen, und wen er erwischte, - beinahe alle -, der mußte eine Strafarbeit schreiben. Ich schrieb ihm solche einmal in Form einer gutmütig - spöttischen Ballade. Nach 5 Jahren

zeigte er mir dann mal dieses doch recht ungehörige Geschreibsel und steckte es rasch wieder ein. Ich habe mich unendlich geschämt. Vielleicht werde ich es am Schluß als Anhang aufschreiben.

Aber neben der Schule gab es damals noch weit wichtigere Probleme, man war immer und überall auf der Suche nach etwas Eßbarem. Wir hatten - ganz im Gegenteil zu den Großstädtern - keinen ausgesprochenen Hunger. Trotzdem war es eine Freude, als uns Opa zunächst einmal 50 m² von seinem Gartenland abgab und wir dort etwas Gemüse und Frühkartoffeln anpflanzen konnten. Er überließ uns auch 2 Buchten seines Kaninchenhauses mit 4 kleinen Muckerhäschen. Das war schön. Ja, unsere ganze neue Heimat war unwahrscheinlich schön und so recht liebenswert.

Es war Pfingsten 1946.

Wir hatten gegen Naturalien bei den Großstädtern, die damals scharenweise die Dörfer bereisten, Bettwäsche und sogar etwas Seidenstoff eingetauscht. Die 4 Fräulein Tonski aus Riesenburg, die wir zufällig in Rostock auf dem Bahnhof getroffen hatten, wohnten nur 4 km entfernt in Gubkow. Die eine nähte, die andere stickte, die 2 übrigen verließen für die nächsten Jahre ihre Berufe als Verkäuferin und gingen zu den Bauern, Feldarbeit leisten.

Die zwei ersten jedenfalls zauberten aus schwarzen, roten und braunen Stoffen, meist allerdings weißer Bettwäsche, hübsche Röckchen, Blüschen oder Kleidchen. Einfarbige Stoffe wurden, wo es nur hinpaßte zu Spottpreisen auch noch kunstvoll bestickt.

Nein, fanden wir uns schmuck; und so wurden die Pfingsttage für alle zu recht glücklichen Tagen. Das Wetter war milde bis warm. Alles war grün und blühte. Am Pfingstsonnabend wurden nicht nur die Zimmer, sondern Hof, Ställe, Garten, Wege, usw. von Bauersleuten und Flüchtigen aufgeräumt und gesäubert. Wir Kinder holten grüne Zweige für die Glasveranda und die Zimmer. Die Bäuerin gab uns einen viertel Streuselkuchen eines großen Bleches. Hm, war uns festlich zumute. Am Pfingstsonntag wehte dann ein kalter Wind, aber die Sonne schien freundlich herab. Alles duftete und an den windgeschützten Ecken war es einfach himmlisch.

Wir Mädchen gingen mit den anderen nach Sanitz 5 km in die Kirche. Der Herr Pfarrer Schmidt, der spätere Domprediger zu Güstrow, war ein sehr gebildeter, kluger und toleranter Herr. Seine ganze Erscheinung mit seinem Auftreten, strahlte eine große Persönlichkeit aus. Leider war er ein weitaus besserer Pädagoge als Herr Schmoldt, was letzterer aber auch richtig einschätzte und sich bei ihm Rat Tat und Hilfe holte

Ich muß dies im Zusammenhang mit der Tatsache erklären, weil Lehrer Schmoldt kurz vor meiner Konfirmation bei Herrn Pfarrer ins schlechte Licht setzte.
Er sah damals wohl keinen anderen Weg mehr, mich zum Gehorsam zu zwingen. Zu meinem Glück hatte das keine ernsten Folgen, schließlich war ich Herrn Pfarrers eifrigste Schülerin. Dank Großchens Einfluß hatte ich seit meiner frühsten Kindheit ein gutes Verhältnis zu Katechismus und mit Bibel Kirchenliedern stark konfrontiert. Als Konfirmandin ließ ich auf "meinen" lieben Gott jedenfalls nichts kommen. Er war in meinen Augen eine große Respektsperson fast meiner Verwandtschaft zugehörig. und sozusagen als Gegenleistung etwa beschützte er mich und paßte auf, daß ich alles so halbwegs richtig machte. Zumindest habe ich daß damals so gesehen.

Montags gingen wir zusammen mit den Vietower Mädchen (inzwischen mit ihnen angefreundet), in die Kirche zum Konfirmandenuntericht. Der Weg führte durch den Wald und wir genossen die grünende, blühende Welt. Den Rückweg nahmen wir querfeldein, den "Kirchensteig entlang über ein Bächlein hinweg. Hier mußte man einfach verweilen. Diese Stelle mit seiner Ruhe lud förmlich dazu ein. Man konnte träumen und den Duft von Gräsern und Kräutern geniessen.

Am 2. Pfingsttag gingen Tante Lisa, Mama, Trautchen und ich über den Feldweg nach Gubkow, um unsere ehemaligen Leidensgefährten, Frau Rüger mit Söhnchen Wolfgang und Oma Scholz zu besuchen. Auch hier merkten wir wieder einmal so recht, wie schön unsere neue Heimat war. Frau Rüger und Oma Scholz gefiel es in der "Neuen Welt" überhaupt nicht. Sie wollten oder konnten sich nicht einleben und jammerten nur herum. - Beide sind dann auch bald nach Westdeutschland übergesiedelt.

Auf dem Rückweg gingen noch bei den 4 Fräulein Tonski an. Das waren nun ganz andere Menschen, früher wohlhabenden und in guten Verhältnissen lebenden, jetzt zu Landarbeitern und Flickschneidern umgewandelt worden. Auch sie hatten früher ein schönes Häuschen - Mama kannte es noch. Trotzdem packten sie das Leben wieder froh an, den es konnte ja nur noch aufwärts gehen. Ach wenn man momentan zu fünft in einem Hinterstübchen hausen mußte. Die meisten blickten optimistisch in die Zukunft.

Wir alle freuten uns über jede kleine Anschaffung riesig. Ob ein paar Kaninchen und Hühner, etwas Gartenland. Es bedeutete nicht nur mehr und besser essen, sondern man konnte damit auch bei den Großstädtern Wäsche und Garderobe eintauschen, was uns bitter nötig tat. Ja, man konnte sich damals über Kleinigkeiten freuen, wohl weil auch unsere Ansprüche klein waren.

Das Gesagte soll durchaus kein Werturteil über Menschen wie Frau Rüger sein. Nein. Sie und viele andere waren im Grunde rechtschaffene anständige Leute, die eher verhungert wären. als einem Großbauern ein paar Kartoffeln zu stehlen, dazu wären sie nicht fähig gewesen. Gab man ihnen aber vom Gestohlenen ab, nahmen sie es immerhin dankbar an, wie damals im Flüchtlingslager.

In der Abendsonne gingen wir einen kleinen Umbogen über Hohengubkow durch grünenden Felder und Koppeln zurück. Als wir auf dem Gipfel der leichten Steigung waren, lag da freundlich zu unseren Füßen Schröders Gehöft. Innerlich Grüßte ich "Hallo neue Heimat" und ich glaubte auch ein freundliches "Hallo" zu hören.

Da Papa sich merklich erholt hatte, wagten es unsere Eltern, auch eine Neubauernsiedlung zu übernehmen. Aber wir waren natürlich den Vietowern und den Pinnowern gegenüber total im Nachteil. Die hatten alle ihr "Schäfchen" längst im Trockenen mit Geräten, Vieh, Ställen usw. Dazu waren sie alle kreuz und quer miteinander verschwägert; wir nur waren Freunde. Das heißt, daß auch das Verlosen der Tiere, der Felder oder Gerate nicht so 100%i rechtens war. Papa merkte bald "wie der Hase lief", schwieg aber klugerweise. Protest hätte auch nichts höchstens Feindschaften und vielleicht noch ein brennendes Haus oder sonstige Sabotagen eingebracht. Wir war jedoch auf Freundschaft bedacht. Außerdem was hätte uns das beste Vieh oder auch der beste Acker nicht gebracht, wir hatten keinen Stall oder Schuppen. Sicher, vielleicht hatte Frau Schröder recht, wenn sie sagte, wir wären unter diesen Umständen doch besser gefahren, wenn wir bei ihr als Arbeiter geblieben wären. Aber die Vietower früheren Gutsarbeiter fanden, daß das jetzt erniedrigend wäre. Na gut, sie hätten auch irgend wie recht. Zumindest konnten sie klug daherreden, sie hatten Haus und Hof. Dazu kam daß der ehemalige Gutshof zur rechten Zeit von ihnen wacker geplündert wurde. Da ist dann guter Rat so billig wie große Worte.

Nun waren wir Neubauern.
Aber für uns änderte sich nur, daß wir nun unsere Milch nicht mehr von Frau Schröder sondern vom Bürgermeister holten und Papa nicht mehr bei Schröders im Stall arbeitete, sondern früh um 7 Uhr vom früheren Vorarbeiter Hans Möller zur Arbeit eingeteilt wurde. Als „Fremder" hatte er verständlicherweise den entferntesten Acker pflügen, bzw. die sumpfigen Wiesen mähen mußte. Das ging soweit, daß er im Herbst, obwohl ganz sichtbar krank, zum Langholzfahren eingeteilt wurde. Das hieß, über Tage und Nächte auf dem Langholz sitzen im eiskalten Herbstregen und Wind, ohne richtige Bekleidung. Davon hat er sich dann auch nicht mehr erholt. Sein Asthma war schon schlimm genug. Nun hatte er sich noch eine schwere, langwierige Lungenentzündung dazu geholt. Er war so furchtbar kaputt, daß er nicht einmal über Weihnachten aus dem Bett, geschweige auf die Beine kam. Nach dem Fest kümmerte sich unser guter Hausarzt Herr Dr.Groddeck aus Sanitz, daß er nach Tessin (bei Rostock) ins Krankenhaus kam. Trotz der Bemühungen starb er am 5. Januar 1947. Sicherlich war Komplexität aller negativen Umstände, die den Tod Sieger ließen wurden.

Aber zurück zum angehenden Sommer 1946.
Wir Kinder entdeckten immer mehr unsere schöne neue Heimat. In den Sommerferien arbeiteten wir mit viel Freude bei Schröders auf dem Feld. Zum Beispiel bei der Ernte und beim Dreschen. Wir waren dabei recht lustige und sangesfreudige Leute. Da war Gustav Strauch der spätere Mann unserer Bäuerin. Grete Möller das Dienstmädchen der Bäuerin und heimliche Liebe des Gustav Strauch. Dazu Otto Stephan - ein trockener Witzemacher und Fräulein Tonski, die sich laufend freundschaftlich mit Otto neckte. Sie war im Grunde eine recht gebildete Dame, was sie hier bescheiden verstecken wollte. Das gelang ihr natürlich nicht. Während wir Unkraut jäteten, Rüben hackten, Kartoffeln sammelten war unsere Unterhaltung über allerhand Wissenswertes und Schönes mit ihr einfach wunderbar. Natürlich profitierten wir sehr vom Wissen und der Lebensauffassung Fräulein Tonskis. Vielleicht wurde ein Teil meines späteren Tun, von diesen im weitesten Sinne philosophischen Gesprächen geprägt. Außerdem war dazu sehr unterhaltend und kurzweilig mit diesen freundlichen Menschen.

Überhaupt war es schön früh hinaus zufahren oder zu wandern, wenn die Morgensonne auf den Tauperlen glitzerte und man erschauerte, wenn das feuchte Gras die nackten Beine berührte.

In einer Art internen Wettbewerb‚ eiferten darin die einzelnen Vogelstimmen den richtigen Vögeln zuzuordnen. Wir lehrten uns gegenseitig schöne Volkslieder, sangen auch im Kanon, und freuten uns trotz schmerzenden Rücken auf den heißen Milchkaffee und die Schnitten. Die sonst wohl üblichen derben Reden auf dem Felde verboten sich bei dieser Zusammensetzung von selbst. Es gab sie dort nicht.

Nach den abendlichen Bratkartoffeln plus wohlschmeckender Milchsuppe ging die Jugend und die größeren Kinder zum Großen See baden. Dort roch es herrlich. Besonders nach Kalmus, deren Wurzeln schmeckten uns auch.

Überhaupt hatten wir immer einen Bärenhunger, ganz besonders nach dem Baden. Dann aßen wir alles fast - wie die Urmenschen - was wir erlangen konnten: wilde Birnen, Gurken, kalte Pellkartoffeln, Brot mal geröstet mal in Sirup getaucht oder in die Heringslake von Opa Sommerfelds „Heringsschatzfäßchen" gestippt. Wie gesagt es wurde alles verputzt was irgendwie eßbar war oder wenigsten sonst einen Nährwert hatte.

Im Herbst machte es auf dem Feld dann nicht mehr so viel Spaß, wie im Sommer‘ trotz Fräulein Tonskis lyrischen Herbstliedern und Gedichten. Besonders als der Nieselregen einsetzte und der Acker an den Sohlen unserer Schuhe klebte. Außerdem war jetzt Schule, die wir um nichts geschwänzt hätten, jetzt war sie doch wesentlich interessanter.

Im August sind meine älteste Schwester Christel und ihr Töchterchen Hanni (Mausi genannt) zu uns gekommen. Sie hatten doch bis auf Christels andere Tochter die kleine Heidi (die leider dem Hungertod zum Opfer fiel) überlebt.
Mausi stand oft schon vor der Schule und wartete auf mich. Leider blieb es manchmal nicht dabei und sie wartete nicht nur. Wenn es ihr zu lange dauerte, kam sie einfach herein mit ihren 4 Jahren natürlich ohne jeden Respekt. Sie machte die Klassentür leise auf und rief dann laut: "Rutchen!". Was folgte ist wohl jedem klar. Die Klasse schrie vor Vergnügen und Herr Schmoldt bekam nun keine Ordnung mehr zustande und verabschiedete uns.

Ja, jetzt wollte ich lieber zu Hause oder im Gartenland helfen oder Holzmieten bauen oder einkaufen fahren. Kurz gesagt alles tun, wo ich Mausi - die sehr an mir hing - bei mir haben konnte. Das entfremdete mir allerdings Trautchen etwas. Aber es kam nun wohl ohnehin die Zeit wo unsere innige Verbundenheit lockerer wurde. Natürlich ist das sicherlich auch altersbedingt, d.h. gewissen Altersstufen eigen.

Ich glaube das auch viel später bei meinen beiden Söhnen beobachtet zu haben, die sich dann wieder ab einem gewissen Alter (Peter[19] / Wölfi[15]) wieder super verstanden und absolut eine „Wellenlänge" hatten - zum Glück bis heute.

Das Ganze ging glaube ich weniger von meiner Seite aus, eher von Trautchens. Außerdem wurde sie etwas resuluter und bestimmender. Ich ließ sie wohl aus gutmütiger Nachgiebigkeit, aber sicher auch aus Bequemlichkeit gewähren.

Zum Einkaufen nach Tessin konnte ich Mausi erst mitnehmen, nachdem die Bahn wieder fuhr. Vorerst konnte man manchmal früh mit dem Milchwagen mitfahren. Natürlich paßten dort nur begrenzt wenige Leute zwischen die Milchkannen . Wenn schon genügend ältere Frauen dort waren hieß es selbstverständlich für die Jugend laufen. Bestenfalls rückwärts die vollen Taschen und Netze mitzugeben. Meist versuchten wir Kinder erst gar nicht mitzufahren, sondern trabten gleich zu Fuß los und nahmen in der Regel auch heimwärts unser Eingekauftes mit.

Damals hatte jeder eine Lebensmittelkarte und die ersten Jahre nach 1945 wurde stets „aufgerufen" was man kaufen konnte. Einmal etwas Fett, ein andermal Marmelade oder Zucker, nur Brot konnte man kaufen solange die Brotabschnitte reichten, was sich für größere Familien günstig auswirkte. Eine einzelne Person bekam theoretisch 100 Gramm Brot pro Tag, mußte sich praktisch zweimal im Monat ein Brot kaufen und daran herumnagen; denn kein Bäcker verkaufte 100 g Brot - also zwei Scheiben.

Wir kauften bei einer solchen Einkaufsreise etwa 6 Brote dazu vielleicht etwas Butter oder 100 g braunen, ungereinigten Zucker oder Molkesirup. Das war eine gelblich - weiße dickflüssige und sehr süße Angelegenheit, eben Sirup mit Molke vermischt und damit gestreckt und angeblich bekömmlicher. Jedenfalls naschten wir Kinder auf dem Heimweg tüchtig davon und knabberten auch die Kruste der warmen Brote an. Manchmal nahm uns ein Bauernwagen oder ein Traktor mit. Zwar hatten wir Verbot, mit Leuten mitzufahren, die wir nicht kannten, aber wem kümmert schon ein Verbot wenn man viel zu tragen hatte und die Mittagssonne saharamäßig auf den Körper niederbrannte.

Trotzdem war dieses Verbot nicht unberechtigt.
Einmal wollte mir beim Absteigen jemand mein Netz mit den Broten nicht geben. Ich verteidigte unser Brot, daß für alle mindestens 10 Tage reichen mußte. Nun sicher, ich wäre ernsthaft gegen diesen Hünen nie angekommen. Ich war entschlossen den Wagen nicht zu verlassen. Nach vielen Minuten voll verzweifelter Angst gab er mir mein Brot und sagte: „Schönen Gruß an die Eltern und fahre künftig nicht mit Freuden mit".

Auweia, dieser, wenn auch grober Scherz hatte geholfen. Ich bin nach diesem Erlebnis doch recht vorsichtig geworden. Dieser Hüne (ein Großbauer aus Lieblingshof hinter Sanitz) hatte kurz zuvor an Mama ein Ferkel verkauft und kannte mich daher.

Ja wir wurden immer „wohlhabender". Das Ferkel war sehr teuer gewesen, weil es schon recht groß war und so hat Mama nur eins nehmen können. Frau Schröder hatte uns eine kleine Schweinebucht abgegeben. Wir hegten, pflegten und vor allem fütterten dieses Ferkel, da es schon zum Winter geschlachtet werden sollte.

Seit Christel bei uns war, wurde im Waschhaus gebadet. Zuvor hatte Mama Sonnabends eine Zinkwanne in die Küche geholt und einen großen Topf mit Wasser heiß gemacht mit kaltem gemischt und dann badete die Familie. Zuerst wir Mädchen, dann Mama und Papa. Zum Schluß mußte dann das Schmutzwasser eimerweise herausgetragen werden, die Wanne gesäubert und zurückgebracht und alles aufgewischt werden.

Nun, das wurde jetzt besser. Wenn am Sonnabend Zimmer, Treppe, Hof usw. alles sauber war wurde im Waschhaus der große eingemauerte Kupferkessel angeheizt und wir badeten dort. Trautchen im Waschzuber, ich als kleine Dünne mußte in die Holzwanne klettern, die auf drei Beinen stand. Christel nahm die Glut aus dem Herd und stieg in den Kessel. Das war ein Lachen und Prusten und ein Vergnügen bis plötzlich an der verbarrikadierten Tür zum Schweinestall „Gustavchen" rüttelte, er müsse eilig Wasser haben. Während Trautchen noch versuchte mittels Schlauch Wasser durch die Türritze auf Herrn Strauch zu spritzen, guckte plötzlich der runde Glatzkopf von Opa Sommerfeld in das an sich hoch gelegene Fenster.

Ich schrie fürchterlich auf meinem Hochsitz und Christel neben dem Fenster erhob den großen Wäscherührlöffel. Opa hatte sich mühsam aus vielen Holzklötzchen und Gerümpel diesen wackligen Standort gebaut. Es war wie im Film (das Bad auf der Tenne läßt grüßen); als nun Christel die Kelle erhob, stürzte Opa mitsamt seinem Turm herab und konnte froh sein, daß er sich nichts gebrochen hatte, wie ihm Mama und die Bäuerin tadelnd erklärten.

Jetzt war es Ende Oktober und der Kupferkessel wurde arg gescheuert denn nun wurde Sirup gekocht. Das Unangenehmste daran war wohl das Putzen der Zuckerrüben, sie mußten ringsherum ganz sauber geschabt, gewaschen, zerkleinert und dann in der Regel die ganze Nacht gekocht und gerührt werden. Selten tat dies eine Person allein. Erstens war es langweilig, denn man durfte nicht einschlafen sonst konnte der Sirup überkochen. Zweitens mußte er langsam einkochen(dicken) und fleißig gerührt werden.

Hinzu kam ja die Nacht und das war ja dann von sich aus schon gruselig. Man hörte immerwieder von Dieben, die auch notfalls derb zuschlagen konnten. Es gab da tolle Gerüchte von den Sirupköchinnen. Man saß im Waschhaus fernab vom Haus, die Hunde waren angekettet und man war bloß mit Schürhaken und Rührstock bewaffnet. So war es sicherer zu zweit „Sirupnachtdienst" zu tun. Manche Leute organisierten sich sogar Ablösungen.

Im November war unser Ferkel eigentlich noch kein schlachtreifes Schwein aber Mama hatte sich dennoch entschlossen es noch vor Weihnachten zu schlachten. Christel war nach all den Entbehrungen hungrig auf ein gutes Stück Fleisch und Wurst - Papa erst recht. Dazu kam, daß es uns an der allernötigsten Wäsche und Garderobe mangelte, wir hatten eigentlich nichts und Christel gar nichts. Mit Fleisch, Speck oder Schmalz standen uns damals jedenfalls alle Türen offen. Die armen hungrigen Großstädter liefen mit derartigen Dingen, eben Kleider, Wäsche usw. den Bauern die Türen ein, um nicht zu verhungern.

Opa Lorenz ,der sich anpries ein Fachmann zu sein, wurde geholt, und das Schweineschlachten wurde zu einem klassischen Lustspiel. Opa Sommerfeld, der natürlich beleidigt war, daß wir Opa Lorenz, den tattrigen Schwachkopf, geholt hatten, erschien trotzdem. Dem lorenzsche Schlachtobermeister tat das Schweinchen sichtlich leid. Er redete ihm tröstlich zu aber es blieb mißtrauisch. Mama und Christel sollten es halten. Opa Lorenz schlug, immer noch freundlich redend hinterlistig mit dem Vorschlaghammer zu, streifte es nur und bewies dem Schwein, daß sein Mißtrauen berechtigt gewesen war. Es woIlte nun mit aller Kraft um sein Leben rennen. Mama und Christel konnten es nicht mehr halten. Christel sprang couragiert rittlings rauf und Opa Lorenz wurde gegen die Wand gerannt.

Es folgte der Auftritt von Opa Sommerfeld, der inzwischen zum "Grand PigPokr-Killer avancierte". Ein echter Indianer hat natürlich mit Vorbedacht sein Tomahak (hier in Form einer Zimmermannsaxt) dabei, um bei der erwarteten Unfähig des "tattrigen Schwachkoppes", als Retter der Nation der Schweinefleischesser aufzutreten. Mit der stumpfen Seite seiner spätgermanischen Waffe erschlug das Schwein mit einem gezielten Schlag. Trotz verdrehter Axt war es kein stumpfer Schlag, das Blut spritzte vorzeitig und konnte von Mama nur noch teilweise aufgefangen werden. Das war ein Verlust. Man bedenke die herrlichen Blutwürste die uns entgangen waren. Immerhin das Schwein war nun tot. Opa Lorenz hatte versagt und Opa Sommerfeld fühlte sich nun als der Held von Vietow und Umgebung.

Mama sah das anders. „Das wollen Männer sein!?" Erbärmliche Stümper und Dilettanten waren glaub ich die mildesten Ausdrücke und das sie es beim nächsten mal selber macht.
Aber die Gaudi war noch nicht vorbei, sie bekamen noch mehr Schimpfe. Opa Lorenz wollte auf seine Art gegen das Geschimpfe protestieren und sich rehabilitieren. Hinter Mammas Rücken „hievte" das tote Schwein in den Brühtrog. Das Wasser, das er darüber schüttete war offenbar noch nicht heiß genug, jedenfalls brühte es die Borsten nicht ab. Marthakind schüttete das Wasser weg - das nur handwarm wäre (!)- und goß kochendes darüber. Aber das war nun auch nichts mehr, durch den ersten Guß waren die Borsten aufgeweicht. Dann hatten die Männer noch die Kotlettstücke falsch zerhackt, so daß diese sehr klein ausfallen wurden. So war denn das Schlachlfest ein recht verdrießliches geworden.

Wenn ich heute daran zurückdenke, kann ich immer noch herzhaft lachen.

Einen Hinterschinken bekam die Bäuerin, dafür gab sie uns beim Frühjahrsschlachten einen frischen. Ein Vorder - und ein Hinterschinken kamen in Salz und dann in den Rauch zur Bäuerin, ebenso die Speckseiten. Das Wurstmachen überwachte Mama persönlich und würzte selbst. Es wäre auch zu schade gewesen, wenn wegen des alten Wichtigtuers die auch noch verhunzt worden wäre.

Nun konnte es Weihnachten werden. Wir fanden einen wirklich schönen Baum und Christel machte aus weißem Bindfaden „Engelshaar". In Tessin im Papierladen gab es aus "überzuckerter" Pappe Sternchen, Schneemänner und noch einiges. Insoweit war es dieses Jahr ein schöneres und reicheres Weihnachten; aber so andächtig, wie damals 1945, gerade dem Typhuslager entronnen, war es jetzt 1949 nicht. Papa lag todkrank im Bett und Dr. Groddeck hatte zu Christel gesagt, daß er nicht mehr lange zu leben hat. Er hatte dieser furchtbaren Krankheit nichts entgegenzusetzen. Es war ja noch ein Wunder, daß er überhaupt bis hierher alles überlebt hatte.

Nun hatten wir einerseits also Christel und Mausi wieder und nun sollte Papa von uns gehen, und von Walter kein Lebenszeichen. Gleich nach Weihnachten kam Papa ins Krankenhaus wohl wissend, daß er sterben wird, bat er Mama, am Sonntag die Mädchen noch einmal mitzubringen. Jedoch bereits früh 5 Uhr am 5. Januar, blieb sein Herz für immer stehen. Jeden Falls hörten nun auch seine schrecklichen Qualen auf, wobei die Atemnot bestimmt das Schlimmste war. Ich glaube auch hier dachte ich über das Wort Erlösung tiefer nach. Es war ein besonders strenger Winter und Papa mußte 14 Tage liegen, bis man endlich in den hartgefrorenen Boden ein Grab schaufeln und ihn begraben konnte. Aber trotz des schlimmen Wetters, waren viele Vietower nach Tessin gekommen, um Papa die letzte Ehre zu erweisen. Sogar unser Lehrer und seine Eltern waren dabei. Der Sargtischler bekam einen Baum aus unserem Siedlungswald. Den Pfarrer konnte man zum Glück mit Geld bezahlen. Allzuviel hatten wir auch davon nicht mehr. Besonders die Wochen in Berlin waren teuer gewesen. Jeden 2. Tag ein Weißbrot für 150 Mark.
Für Geld konnte man 1947 sowieso fast nichts kaufen. Trotzdem brauchte man für bestimmte Zwecke eben Geld.

In diesem Winter herrschte ein so starker Frost, daß selbst die fließenden Stellen des Vietower „Großen See" zugefroren waren. Für die Ordnung - d.h. den Fischbestand - im See fühlte sich niemand verantwortlich. Als das erste große Tauwetter im März einsetzte, wurden unwahrscheinlich viele große tote Fische ans Ufer geschwemmt, sie waren alle erstickt. Das war in dieser Hungerszeiten ein großer Verlust. Aber Mutter Natur hatte zum Glück viele kleine Fische überleben lassen. Sie kamen nun scharenweise unter dem Eis hervor. Mit allem möglichen Gerät (z.B. große Siebe) wurden sie gefangen, anschließend entgrätet und zu Buletten oder Brotaufstrich verarbeitet. Für uns war das eine willkommene Abwechslung die ausgezeichnet schmeckte.

Der Frühling schien in diesem Jahr traumhaft schön zu werden. Der Kampf um die immer noch knappen Lebensmittel ging unentwegt weiter. Mama, Christel und auch wir Mädchen halfen beim Bauern, wo es nur ging. Dabei mußten Mama und Christel ihre Arbeitskraft eigentlich als Siedler dem Gut zur Verfügung stellen. Inzwischen wurden überall die Mieten (so wurden früher z.B. Hackfrüchte in so genannten Mieten meist am Feldrand über den Winter gelagert) geöffnet und Kartoffeln sortiert. Wir halfen indessen nicht auf dem Gut, sondern bei Schröders. Wir benötigten dringend Kartoffeln und die Gutsmieten waren den Winter über trotz Nachtwächter geöffnet und geplündert worden. Kein Wunder, den die Menschen hatten großen Hunger. Nur hatten es die Diebe zumeist unterlassen, danach die Löcher ordentlich zu schließen, so daß der verbliebene Rest der Kartoffeln erfroren war.

Nun begann Mama auch noch zu kränkeln, und Christels Wirbelsäule war verkrümmt und schmerzte stark. Mama entschloß sich kurzerhand die Siedlung aufzugeben. Für uns war es auch nur ein Arbeiten und Mühen ohne den geringsten Erfolg gewesen. Für die Einheimischen hatte sich vom Prinzip her nichts geändert. Sie waren früher beim gnädigen Herrn nach der „Glocke" arbeiten gegangen, besaßen ein Stück eigenes Ackerland, etwas Vieh und die meisten klauten wie die Raben was sie nur konnten. Zumindest erzählten sie es unverblümt. Es hatte sich nichts geändert.

Sie hatten sich bereits im Herbst en Gros mit Vorräten vom Gut eingedeckt. Im zugeteilten Waldstück wurde Raubau betrieben, was man eben nicht alles mit bitterem Hunger bemänteln konnte. Unser ABV (Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei) war in Gubkow und nur selten hier um nach Recht und Ordnung zu sehen.
Trotzdem auch die Jugend wuchs heran. Fortschrittlich wie es der Jugend eigen ist, paßten sie schon auf solche Sachen auf und machten sich damit unbeliebt. Nicht zuletzt war es unter anderem dieser Umstand, daß den schlimmsten Raffkes hier und da auf die Finger geklopft wurde.

Wie bereits gesagt für uns war es unter diesen Umständen besser die Siedlung aufzugeben. Es führte zu nichts. Wir hatten hinter Schröders Koppel und dem Igelsee, so einen kleinen mit Schilf fast völlig umwachsenen, total versumpften Teich, neben Opas Gartenland nun auch ein Stück Land bekommen. Dort wurden Kartoffeln und Gemüse unter Opas fachmännischer Leitung angebaut. Besonders Gurken und Bohnen wurden hoch gehandelt, aber auch alle Kohlsorten, Gewürze und Tabak. Das wurde zum Teil nach Rostock und Warnemünde in Hotels oder bei den Fischern gegen andere Lebensmittel eingetauscht. Vieles wurde auch gegen Wäsche und Kleidung bei den her reisenden Großstädtern getauscht. Meist wollten sie aber Mehl, Eier oder Fett, was wir aber nur in kleinen Mengen zur Verfügung hatten. Auf diese Weise hatte ich und Trautchen schon recht hübsche Kleidchen . Christel war 25 und für sie war es ja besonders wichtig, daß sie schöne Sachen hatte.

Eine solche "Tauschfrau" aus Berlin sah mich einmal tanzen und wollte mich sofort mitnehmen, um mich ausbilden zu lassen. Sie war vom Fach und gab nicht auf. Aber Mama ließ nicht mit sich reden. Das Kind würde dort ja verhungern. Nein, sie können ihr doch laufend Eßware schicken. Nein! In der Großstadt verkamen junge Menschen auch moralisch und nun gar als Tänzerin. Na, hören sie, sagte die Dame, das ist ein sehr schwerer, ernster und schöner Beruf und das Kind hat offensichtlich Talent. Schließlich hinterließ die Dame ihre Adresse.

Mama sollte sich alles reichlich überlegen und sich auch beraten. Aber sie blieb bei ihrer Meinung, sie hatte eine Menge dagegen - basta. Auch Christels Reaktion war nicht sehr schön, schließlich hätte ich von ihr als große Schwester Fürsprache erwartet. So bin ich damals schnell und nüchtern über meine Tanzkarrierebestrebungen hinweg gelupft worden. Schicksal hin oder her, wer weis wozu es gut war. Mit 13 Jahren sieht man das ganz anders, eine kleine Welt bricht da zusammen und viele Tränen kullerten.

Der Frühling wich einem wunderschönen Sommer und mit ihm kamen die Sommerferien. Meine Tränen waren längst getrocknet. Herr Schmoldt verabschiedete uns mit lieben, ernsten und ermahnenden Worten. Und ich nahm mir wieder einmal ganz energisch vor, mich zu bessern und nach den Ferien nett und artig gegenüber Herrn Schmoldt zu werden.

Welcher Teufel brachte mich nur immer wieder dazu, mich ausgerechnet diesem anständigen, guten Menschen gegenüber so sagen wir mal "eigenwillig" zu benehmen? Sonst war ich doch gegen jedermann lieb und gutmütig; allerdings gegen Jungen, die mir auf ihre dümmliche Art den Hof machten, benahm ich mich ziemlich aggressiv, aber nie kleineren gegenüber.
So durfte der 13jährige Hermann sich ohne Gefahr erlauben, was ein größerer nicht durfte; selbst Leo hatte sich damals noch in respektvoller Ferne zu halten. - Darüber hinaus hatte ich ein Leben lang ein freundlicheres Verhältnis zu Frauen und Mädchen, als zu Männern, und waren diese auch noch in mich verliebt, wurden sie schlecht behandelt. Ganz im Gegensatz zu meinen beiden, ach so geliebten Söhne, Peti und Wölfi. Seit es sie gab, sind sie mir das Liebste und Kostbarste, auf der Welt; daß werden Wohl die meisten Mütter verstehen.

Oft habe ich versucht meinen vorher genannten Charakterfehler der mit Herrn Schmoldt und Leo begann wenigstens abzuschwächen, konnte ihn aber nie ganz abstellen. So sehr ich darüber nach dachte, es ließ sich keine Ursache ergründen.

Dieser Sommer brachte ein großes Abschied nehmen. Meyer - -Hübners zogen zurück nach Hamburg. Frau Hann hatte ihren Mann gefunden und zog mit den Kindern zu ihm nach Westdeutschland. Trudchen Sommerfeld zog mit Erich zu ihrem Mann nach Coburg.

Das bedeutete nun auch mehre Umzüge innerhalb des Hauses. Wir zogen aus unserem lieben kleinen Stübchen in das große Zimmer links neben der Veranda herunter. Das Zimmer war wirklich sehr groß, aber nun mußten wir hier auch gleichzeitig schlafen, wohnen und kochen. In den zwei schmalen Betten schliefen jeweils Mama und Christel und in dem breiten Trautchen und ich. Für Mausi hatten wir ein Kinderbett gekauft. Wir hatten auch sonst schon einige hübsche Möbelstücke. Da war ein ovaler, stilvoll gedrechselter Tisch, Läufer, Bilder, Polster - nur immer noch keinen Kleiderschrank. Als solcher diente breite Türfüllung zum Nebenzimmer mit einer hübschen Decke davor. Das hatte den Vorteil, auf diese Weise waren auch die Stimmen von hüben nach drüben nicht zu hören.

Beim Tischler hätte man ja notfalls Möbel bekommen können, mußte aber Holz liefern. "Und woher?" - Mama hielt uns eine notwendige Predigt: "Ich schaffe schon was ich nur kann". Wir fünf brauchen zu Essen, Wäsche und was noch alles so dazugehört. "Ich werde auch noch Möbel beschaffen". Es muß ja nun bald einmal etwas zu kaufen geben. "Guckt‚ mal zu anderen Flüchtlingen hin." Sie hatte natürlich recht. Im Grunde genommen lastete alles an ihr. Wir wollten möglichst ein anständiges Zuhause und ein behagliches dazu, aber vor unangenehmer Arbeit wie zum Beispiel abends im unbeschreiblich verunkrauteten Gartenland jäten, drückten wir uns so gut es ging.

Ebenfalls befanden wir es beschämend mit Opas Handwagen voller Gemüse nach Tessin oder auch nur zur Bahnstation zu reisen.

Unser allgegenwärtiger, gesegneter, kaum zu stillender Appetit, kam bei jeden etwas anders hervor. Christel war mit Abstand die Naschhafteste. Keiner schaffte es so akribisch, mit fast kriminalistischem Geschick" an den Schlüssel der Bodenkammer in der unser Marthakind unser "Schätze " verschlossen hatte, zu kommen. Unter anderem lagerten solche herrlichen Sachen wie Haferflocken, eine große Milchkanne voll Sirup, Speck und ein Schinken.
Vom Sirup bekamen wir alle etwas ab, vom Schinken nur ich. Der Nachteil, man konnte nur heimlich im Versteck wie die Hamster essen, daß war gar keinen rechter Genuß. Opa Sommerfeld sollte zwar aufpassen, aber Christel wußte hier ihn zu becircen. Mausi hingegen durfte nichts wissen, sie hätte alles der Omi verpetzte. Zwar sträubte ich mich innerlich dagegen kargen Vorräte so sinnlos zu vernaschen - trotzdem: "Der Geist ist willig, aber daß Fleisch ist schwach."- wie wahr.

Opa Sommerfeld hatte seine Behausung (eine wirklich häßliche Kebache, Komorke, Horntzsche, in welchem Dialekt auch immer, sie wurde einfach nicht schöner) inzwischen "Krug zum Grünen Kranze" getauft, weil wir allesamt, einschließlich unserer Freundinnen, so gerne bei ihm saßen und sangen. Opa er war früher Baß im Männergesangsverein und leitete nun unseren Chor.

Manchmal erzählten wir auch nur Geschichten, dabei stopften, strickten und Opa schnitzte dazu oder schnitt Tabak Marke "Vietower Igelsee Mondschnitt". Es gab noch weitere mehr oder weniger sinnvolle Tätigkeiten, die aber trotzdem erledigt werden mußten, z.B. Bohnen oder Erbsen zu hülsen, oder verlesen. Besser war da schon wenn wir rohe Kartoffelscheinen auf dem Herd rösteten. Krönung war dann, wenn Opa in Spendirlaune 3- 4; Salzheringe aus dem Fäßchen angelte. In Zeitungspapier in der Glut gebacken, daß schmeckte herrlich, der anschließende Durst war abzusehen. Meist rückte er aber nur etwas Heringslake heraus, worin wir die Brotrinden eintauchen konnten, die er vorher von den Schnitten abtrennte, da er (wiederum unser Glück) sie nicht gut beißen konnte.

Zu Opa Sommerfelds "Schätzen gehörte einen riesigen Steintopf voller Salzgurken mit sehr viel Dill gut gewürzt , denn würzen konnte er ganz ausgezeichnet, das galt auch für sein scheinbar bodenloses Faß mit Sauerkraut. Es reichte glaube ich fast das ganze Jahr hindurch.

Das schönste war aber seine Kunst Geschichten oder Anekdoten zu zelebrieren. Er war schließlich in der Welt herumgekommen und wußte viele lustige Begebenheiten zu erzählen.

Nun war auch wieder die Zeit, wilde Birnen, die letzten Brombeeren und vor allem Pilze zu ernten. Es gab damals extrem viele Pilze in den Wäldern. Während Mama ganz früh die Viehkoppeln nach Champions ab suchte, ging ich meist mit Christel zum Waldpilze sammeln. Pilze, damals in vielfältigster Form ersetzten bei uns Fleisch Wurst, waren mit Speck und Zwiebeln eine prima Abwechslung zu den Kartoffelklößen mit Milch und Sirup oder zu den Birnensuppen. Beim Pilzesuchen hatten wir auch schöne und aufregende Erlebnisse fast schon Abenteuer. Im Sommer fanden wir einmal zwei Rehkitze im hohen Gras versteckt, noch weiß gefleckt, sie waren einfach zu süß.

Jetzt im regnerischen Herbst prasselte es einmal furchtbar im dichten Jungwald neben mir und Christel ein Hirsch. Wir waren ganz starr vor Schreck - der Hirsch wohl auch. Nach einer nicht enden wollenden halben Stunde (ca. 30Sekunden) krachte es erneut Der Hirsch hatte aber gewendet und war zurück ins Unterholz geprescht. Ich war mehr tot als lebendig und konnte eine Weile den Hals nicht bewegen, so starr war ich. Christel hätte das alles gesehen. Wir hatten uns instinktiv Rücken an Rücken gestellt, so daß ich der Gefahr nicht ins Auge blicken konnte.

Alle guten Dinge sind drei, will ich noch ein aufregendes Erlebnis schildern. In der Zeit nach dem Krieg, waren Mecklenburgs sumpfige Wälder von derart vielen Wildschweinen durchzogen, daß man getrost von einer Plage sprechen konnte. Die schwarzen Biesterchens verbreiteten Angst und Schrecken. Daraus folgten die unglaublichsten Schauergeschichten. An besagtem regnerischen Vormittag hatten Christel und ich fast keine Pilze gefunden, daß wir uns schämten, mit so magerer Ausbeute nach Hause zu gehen, denn wir wußten ja, die Pilze die wir bringen, bedeuteten allen Mittag und Abendbrot sein. Christel sagte; wir gehen noch in Schröders Wald. Na gut, das hieß noch 2 - 3 km Weg in diesem Landregen.

Es sah aus, als sollte daß nicht unser Tag sein. Auch hier fanden wir nichts und trabten verdrossen und enttäuscht heimwärts. Wir waren schon fast aus dem Wald heraus, da lief Christel noch schnell mal in Richtung der total verfilzten Tannenschonung. Ich warnte noch, gehe nicht so weit, dort hausen doch die Wildschweine. Unbegreiflicher weise ging sie jedoch direkt hinein. Da, plötzlich schrie sie ganz furchtbar... -: Sekundenlanger Kampf in mir zwischen Angst, großer Angst und helfen müssen! Na, es half nichts, sie schrie immer noch. Ich glaube, ich hatte die Augen geschlossen, als ich hineinging. Mir war klar, daß ich ihr nicht helfen kann gegen eine aufgestörte und sich bedroht fühlende Rotte Wildschweine. Trotzdem es war Christel meine Schwester und ich ging los um mich, wenn auch sinnlos zu opfern. Dort war eine Lichtung. Böse dreinschauende Wildschweine, die plötzlich zu ordinären Steinpilzen mutierten.... - halt, Rutchen aufwachen!

Die frei Fläche vor mir stand voller herrlichster Steinpilze und nicht einmal ein Frischlingspüpschen hing in der Luft. Kein Schwein - im wahrsten Sinne des Wortes. Unser Korb wurde imnu voll und Christels Jacke wurde dazu zum Rucksack um funktioniert. Es war immer schon eine schlechte Angewohnheit von ihr so laut zu schreien. Auch Jahre später, wenn z.B. überraschender Besuch kam oder sonstige erschreckende Ereignisse, sie konnte einfach nicht an sich halten. Diesmal hatte sie es wirklich übertrieben. Wir hatten immer Angst gehabt, dort hineinzugehen, wegen der Wildschweine. Mit einer Kollektion an Mustersteinpilzen, die vorher, ich bin mir da sicher zur Entwurmungskur abgetaucht waren, gingen wir stolz und glücklich nach Hause.

Es war November 1947 und wir gingen nach der Schule mit auf das Feld zur Zuckerrübenernte und zur Kartoffelnachlese. Es machte keinen Spaß bei dem eiskalten Regen, aber wir brauchten Zuckerrüben zum Sirupkochen und die Nachlesekartoffeln für unser Schweinchen.

Papas Grab hatte wir winterfest zugedeckt. Nun kam die trauliche Adventszeit und wir werkten und bastelten eifrig für Weihnachten. Ja Weihnachten war dieses mal sehr betrüblich; ohne Papa, ohne Walter und ohne ein Fünkchen Hoffnung, daß wir doch noch mal zurück in unsere Heimat, nach Liebsee konnten. Aber auch sonst, irgendwie war nicht die große Feststimmung ausgebrochen. Dazu paßte eigentlich zu guter letzt, daß uns der Christbaum abbrannte. Die Kerzen hatten unser selbst gebasteltes „Engelshaar" in Brand gesetzt, der Baum ging in Flammen auf. Oh du fröhliche....

Ab Jahresbeginn 1948 wurde auf meine Konfirmation am 24. März hin "gerüstet". Im Februar fuhr Mama nach Frankfurt/Oder zu ihrer Schwester Tante Auguste gleichzeitig auch meine Patentante. Mamas Bruder wohnte in Dortmund. Er hatte uns damals im Flüchtlingslager angeboten, dorthin zu kommen. Aber unsere Eltern woIlten nicht. Mama hatte für Tante und deren Mann, Onkel Brenske, recht gute Mitbringsel. Ein großes Kaninchen, einige Würste etwas Schinken und sogar Zigarren aus selbstangebautem Tabak. Daß Tante nun selbst Hühner, Kaninchen und einen Garten hatte konnte Mama nicht wissen; auch nicht, daß sie beste Zigarren - Pakete aus Westdeutschland bekamen. Auf alle Fälle blieb Mama fast 3 Wochen. Wir machten uns über die Vorräte her und lebten unter Chrtstels Kommando herrlich und vergnügt. Als sie zurück kam und die geschrumpften Vorräte besah, bekamen wir allesamt etwa zu hören. Vorndran natürlich Opa, der ja eigenlich Hüter der Schatzkammer und oberster Schlüsselaufbewahrer war, leider aber Christels Charme und Überredungskünste nicht hatte widerstehen können.

Tante hatte sehr schöne Dinge für mich mitgeschickt. Herrliche Gedichtbände ein Tagebüchlein aus rotem Leder, 2 Paar sehr feine, zierliche Schuhe, aus Leder bzw. aus Wildleder das zweite Paar. Die waren leider für den Vietower Morast etwas ungeeignet. Hauchzarte Unterwäsche und schwarze Brüsseler Spitze kamen als nächstes zum Vorschein, gedacht für mein Einsegnungskleid .Das Teil was es auf Bezugsschein gab, konnte ‚ich nun als Prüfungskleid nehmen. Christel schenkte, mir ihre gute dunkelblaue Jacke aus Wollstoff. (Über diese großzügige Geste habe ich erst viel Später nachgedacht). Das gute Stück wurde gewendet (ein damals übliches Verfahren um Kleidungstücke wieder zu neuem Glanz zu verhelfen) und für mich umgearbeitet. Das Ergebnis war "totchic". Heute wurde man sagen: "Das Karl vom Lagerfeld" oder "cool" Ich war sehr stolz und freute mich über alles sehr.

Trotzdem machte ich mir bewußt, zumindest versuchte ich es, daß nun die Kinderzeit bald vorbei sein würde. Irgendwie war ich traurig. Ich wäre sehr gerne noch Kind geblieben und zur Schule gegangen. Eine neue Lehrerin, Frau Heese, war gekommen, zu Herrn Schmoldts Unterstützung. Sie war ausgesprochen nett und wir Kinder mochten sie sehr. Dazu war sie hübsch, jung, Witwe mit 2 Söhnen also wieder zu haben. Herrn Schmoldt machte sie schöne Augen - wozu eigentlich die hatte sie sowieso. Hm - schlechte Karten, vor allem für leicht pubertierende Mädchen.

Nun war die Schule noch viel interessanter geworden und für mich sollte sie schon zu Ende sein?

Aber zurück zum Winter.

Die "Vietower Neusten Nachrichten" (Buschfunk) behaupteten: die Wildschweine hätten Abi Dieckelmann, der nachts von einer Festlichkeit aus Wormsdorf kam, auf einen Baum gejagt, von dem er sich erst am Morgen herunter traute. Die Schwarzkittel wären in der Nähe des Baumes geblieben, berichtete der Arme. Böse Zungen meinten allerdings, er hätte bloß eine "Promillo Morgana" gehabt. Allerdings genug Wildschweine gab es ja.

Als das Tauwetter einsetzte , gab es ein trauriges Ereignis. Willi Wruck, unser Schulkamerad und Trautchens kleiner Freund, wollte nach der Schule über den großen See zu seiner Mutter gehen, die im Wald arbeitete. Eigentlich so oft getan, kam er diesmal zu nahe an den Zufluß. Als man ihn unter dem Eis hervorgeholt hatte, war alle schon zu spät. Unfaßbar und furchtbar traurig für uns alle. Trautchen hat sehr geweint. Aber erst die arme Frau Wruck - da war wieder die Frage über Schicksal und Gerechtigkeit.

Der Frühling kam in diesem Jahr sehr zeitig und berauschend schön. Luzie und ich gingen jetzt oft am Waldrand spazieren. Es hatte sich so ergeben, daß wir immer unzertrennlicher wurden. Trautchen bildete mit Tulli, eigentlich meine Altersklasse, ein Grüppchen. Die 2 Jahre jüngere Luzie zog mich irgendwie an. Ich glaube es war ihr etwas exotisch anmutendes Äußeres in Verbindung mit ihrer ganz besonderen Art.

Sie war sehr natürlich und nicht so dümmlich geziert, wie zum Beispiel Erika, Elsbeth oder Edeltraut. Dazu war sie noch Leos, meiner heimlichen großen Liebe, Schwester. Luzie erwiderte mein Empfinden auf der gleichen Wellenlänge, wie man so schön sagt.

Auch später noch, als wir alle schon anders verheiratet waren, als gedacht. Leo versuchte natürlich auch über diesen Kanal einen Fuß in die Tür zu bekommen und bestach seine Schwester unverhohlen mit Geschenken. Nur unsere gegenseitige Zuneigung konnte damals ein Umschlagen ins Gegenteil bei Lutzi verhindern. So ergab es sich, daß jetzt sehr oft bei Familie Jusiak war. Mutter Jusiak hätte mich glaube ich sehr gern als Schwiegertochter gesehen.

Sie nahm mich und Luzie oft mit, wenn sie nach Rostock fuhr. Leo gab ihr, dann Geld mit, dafür sollte sie mir einen Ring Pralinen oder ein Buch kaufen. Er wußte von der Schule her wie, sehr ich die Literatur liebte. Frau Jusiask ließ meinen Protest gar nicht gelten. Das kannst du ruhig nehmen, du wirst sowieso einmal meine Tochter, sagte sie dann.
Na viel Hoffnung bestand für mich nicht, denn Mama war total dagegen und sie tat dann später auch restlos alles, dies zu verhindern, vermutlich zu recht. Es freute mich ja sehr wie dieser mir gegenüber sonst schüchterne Junge Wege fand, mir zu sagen, daß .er mich, lieb hatte, trotz meines abweisenden Benehmens. Er getraute sich nicht, .mich anzusprechen aber wenn Luzie kam, sagte‘ sie immer, schönen Gruß von Leo. Ich hätte es ja auch gerne gesagt, ließ es jedoch lieber aus Angst daß mir die Sache irgendwie über den Kopf wächst, beziehungsweise Angst vor der eigenen Courage.
Öfters ging ich den "schönen Gruß zurück" an Leo hypothetisch durch. Was würde passieren, wenn ich dann in der Schule Leos große, dunkel leuchtende Augen auf mich gerichtete sehen würde? Wie sollte ich diesen Blick aus diesem so ungemein anziehenden, bereits männlich geprägtem Gesicht erwidern?
Leo war eigentlich immer dort; wo ich war. Im Wald, in den Wiesen auf der Dorfstraße; Kornboden, in Tessin im Kino oder auf dem Karussell. Er begleitete mich sogar 6 km zum Friseur; stets im gebührenden Abstand. Trotzdem war Leo eigentlich die Jugendliebe, die wenn man später darüber nachdenkt bei den meisten der oder die schönste war.

Aber das kam alles erst später. Jetzt war erst einmal ein traumhaft schöner Frühling. Zu meiner Einsegnung waren alle Vorbereitungen getroffen. Meine Hauptlektüre war das Neue Testament und ich ging Sonntags und Montags nach Sanitz zu Herrn Pfarrer Schmidt. Zur Feier nach der Kirche hatten wir "Ernsting" einen Musiker aus Rostock engagiert. Ein echter Glücksgriff. Er spielte ohne Noten, aber sagenhaft gut.

Schinken und Würste wurden aus. dem Rauch geholt, Kaninchen und Hühner geschlachtet. Mama hatte sogar einen kleinen Weinballon mit Johannisbeeren angesetzt. Es wurden sieben Sorten Kuchen und 3 Torten gebacken. Selbst Erwin Stephan, der einzige Sohn des Großbauern hatte wohl keine prächtigere .Feier. Der Tag begann für mich mit einer Niederlage. Opa Sommerfeld machte unseren Kutscher. Er hatte Schröders älteste Stute - zu meiner Verzweiflung - vorgespannt und ließ sie "schön sachte" traben; etwa in dem Tempo, daß der Hufschmied ohne größere Mühe einen Neubeschlag hätte durchführen können. Andere Wagen überholten uns auf der Straße im schnellen Trab. Sehr blamabel, ich glaube mit dem Handwagen wären wir weniger aufgefallen.

Mama redete mir gut zu. Sie hatte berechtigte Sorge, daß „La Rabiata" bei mir durchkommt. Besagter Erwin Stephan, ein kleiner mickriger "Knastebuer" flog mit Schallgeschwindigkeit mittels einem doppelt grauschimmelig bespannten "Porsche" vorbei. Ich versuchte erfolglos meine Tränen zu unterdrücken. "Rabiata" übernahm Zügel und Peitsche. Liesiken war trotz Turbo und Nachbrenner nicht zur Beschleunigung zu bewegen. Ich konnte bloß noch weinen. Vor der Kirche mußte ich zur Wiederherstellung meines Selbstbewußtseins schnell vom Wagen herunter und kurz alleine sein. Diese Erniedrigung empfand ich wie tödliche Verletzung. Kopf hoch die Tränen abgewischt; jetzt wollte ich die Schönste sein.
Was übrigens auch später die einheitliche Meinung war. Eigentlich wäre mir daran nicht so sehr gelegen gewesen, aber heute an meinem großen Tag war es dann doch noch Genugtuung.

Opa begriff meinen Unmut nicht. Erwin ließ ich voll abblitzen Er war direkt durchsichtig geworden, gar nicht da. Beim Hinausgehen sagte er: "Du kannst doch heimwärts mit uns fahren, mein Vater hat es auch gesagt, Du und Deine Mutter habt bei uns noch Platz die anderen können ja mit dem Zuckelwagen zurückfahren.
Aber Mama sagte nein und damit hatte sie recht. Das hätte auch nichts gebessert. Wir waren eben nur arme Flüchtlinge. Heimwärts noch einmal das gleiche beschämende Spiel. Ich war richtig böse auf Opa. Ich glaube er verstand nicht einmal wie ich blamiert wurde. Wichtig war für ihn Liesiken wurde nicht überanstrengt.

Nachmittags kamen schon die Leute aus dem Dorf gucken, denn daß wir einen Musiker hatten und getanzt wurde, hatten die Karten und Geschenkebringer rasch weiter erzählt. Nach Kaffee kamen noch mehr und als es dunkel wurde, standen sämtliche Konfirmanden vor unserem Fenster - auch Erwin plus Freund. Ganz unauffällig entdeckte ich dann hinter den anderen versteckt - Leo. Er hatte auch ein Geschenk und war total verlegen, aber Christel holte ihn herein, Luzie war natürlich auch da. Leo tanzte den ersten Tanz mit Mama. War das alles schön.

Über die Konfirmation wurde noch lange gesprochen. Über mein herrliches Spitzenkleid, über die Geschenke, die reich gedeckte Kaffee - und Abendbrottafel; und sogar einen Musiker, das hatte sonst niemand gehabt. .Ernsting hatte fast die ganze Nacht hindurch gespielt, vom guten Essen beflügelte ihn so sagte er.

Nun war aber Abschiedsstimmung in der Schule. Nur noch Monate und dann begann der Ernst des Lebens. Was würde uns, mir das Leben bringen? Bis jetzt hatte es mit mir recht gut gemeint. Würde das Glück und mein lieber Gott mich auch weiterhin geleiten und behüten ? Würde Vietow mir als liebe Heimat bleiben ? Oder mußte ich alles verlieren, Heimat, Freunde, Leo??

Ja, das alles mußte ich verlieren und noch mehr. Das Leben wurde hart und sagte, wehre Dich, kämpfe. Aber es gab einem auch Chancen, die an obendrein oft leichtfertig vertan hat. Es gab im Leben auch immer wieder das kleine Glück‘ man mußte es sich nur bewußt machen.

Das große Glück für mich waren und blieben meine beiden schönen und so sehr lieben Söhne. Ja, und der Beruf, die Liebe und die Erinnerungen an ohnehin recht bewegte und doch so glückliche

K i n d e r z e i t

 


 

Nachwort:

Ich habe dieses Buch nun abgeschlossen, obwohl noch so viel zu sagen wäre. Die meisten Träume und Wünsche haben sich in der erhofften Form nicht erfüllt‘ manchmal anders, doch nicht weniger schön.

Leider konnte dieses Buch in der Form mit dem Inhalt weder verlegt noch veröffentlicht werden. Sicher wäre es für einige Leser eine interessante und spannende Lektüre geworden. Für Menschen, die ähnliches erlebt haben und auch für Junge Menschen, denen die Schicksale und die Zeiten von damals nicht unberührt lassen.

Mein Anliegen war es jedoch an Hand meiner damaligen kindlichen Aufzeichnungen eine wahrheitsgetreue Schilderung meines, unseres Lebens zu geben. Hier ist nichts frisiert worden, es sei denn, viele Begebenheiten auf einen Nenner zu bringen. Weglassen mußte ich genug, es wäre sonst kein Buch, sondern eine Schriftenreihe geworden. Viele grausame Details habe ich auch in bestimmter Absicht im einzelnen nicht aufgeführt. Die Menschen, die dieses Buch lesen, wollte ich damit nicht quälen. Und dann, es sind über die Greueltaten dieses wohl schlimmsten aller Kriege wahrhaftig genügend Bücher geschrieben worden. Dazu sollte es auch kein Buch über den 2. Weltkrieg werden, sondern über meine Kindheit und über meine und meiner Mitmenschen ihre damaligen Erlebnisse.


Anhang

 

Das ungebührliche Spottgedicht an Herrn Schmoldt

-statt der Strafarbeit -

Der Maskenball war wunderschön

da gab es allerhand zu sehen.

Wir zahlten Eintritt, traten ein,

der Schein der Lampen die Masken beschien.

Doch nein, wen hab‘ ich da gesehen?

Den Lehrer an der Treppe stehn.

Er stand so da auf Holzpantinen,

so kam er zu dem Tanzsaal hin!

Er sah die Kinder im großen Hauf‘

und schrieb sie auf seine Strafliste auf.

Ging dann hinunter, den Weg nach Haus‘,

legte sich ins Bettchen und schlief sich gut aus.

Doch wir da oben, wir hatten Ruh‘

und sahen vergnügt den Masken zu.

Eins, zwei, drei Tänze holten sie uns auch,

gingen ‚mal ‚runter und kamen wieder ‚rauf.

Als dann die Masken wurden abgenommen,

haben wir alle das Lachen bekommen. -

Dann kamen Kindertänze, wir gingen nach Haus‘,

waren sehr müde, doch schliefen uns noch aus.

Doch in der Schule - manchem wurde bang,

denn wir sollten einen Aufsatz schreiben -

drei Seiten lang !

Ich aber sagte, so schlimm es mag seien,

aber einen Straf - Aufsatz will ich nicht schreiben.

Jedoch das Gered‘ ward mir zuviel

und ich dachte, auch ein End‘ ist ein Ziel.

Nun, ein Aufsatz ist mir zu stark,

doch ein Gedichtchen ist ja auch nicht arg.

Jetzt kann niemand nichts reden und sagen,

meine Pflicht habe ich, wie alle anderen getan.

Und so wie ich bin, werd‘ ich auch bleiben.

Es tut mir leid, Herr Lehrer,

ich weiß nichts mehr zu schreiben.

 


Walter Sierks geb.  in Rosenberg
Mein lieber Bruder, ich habe bis heute versucht sein Schicksal in Erfahrung zu bringen. Auch mein Sohn Wolf hat dieses ebenfalls versucht.
Auch dieser "Roman" und seine Veröffentlichung auf der Website von Wolf (Muli - daher auch der Domänname "mouli.de") ist in vieler Hinsicht darauf zurück zu führen, irgend etwas über meinen Bruder Walter in Erfahrung zu bringen.


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